1-dimensionale Beispiele.

Letzte Woche hatten wir gezeigt, wie man eine Fläche in Henkel zerlegen kann, sobald man auf der Fläche eine Morsefunktion hat: zu jedem kritischen Punkt vom Index i entspricht das Ankleben eines i-Henkels.
(Und vor 3 Wochen hatten wir gesagt, daß es auf jeder Fläche viele Morsefunktionen gibt.)

Diese Henkelzerlegung ist natürlich nicht eindeutig, zu unterschiedlichen Morsefunktionen kann man unterschiedliche Henkelzerlegungen der selben Fläche bekommen.

Besonders einfach läßt sich das am 1-dimensionalen Beispiel veranschaulichen, also am Kreis.

Nehmen wir etwa den Einheitskreis in der Ebene, also {(x,y): x2+y2=1} und die Morsefunktion f(x,y)=y.

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f(x,y)=y hat ein Maximum in (0,1) und ein Minimum in (0,-1) und das sind die einzigen kritischen Punkte. Das Minimum ist ein kritischer Punkt vom Index 0 und das Maximum ist ein kritischer Punkt vom Index 1.

Also läßt sich der Kreis zerlegen in einen 0-Henkel und einen 1-Henkel. Das ist natürlich nicht überraschend, wenn man sich erinnert (TvF 208), was Henkelankleben bedeutet: hier im 1-dimensionalen Fall ist ein 0-Henkel einfach ein 1-dimensionales Intervall und Ankleben eines 1-Henkels bedeutet, daß man ein Intervall entlang seiner beiden Randpunkte anklebt.

Und Ankleben eines Intervalls an ein anderes Intervall gibt natürlich einen Kreis:

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Ein anderes Beispiel: diese Kurve, ebenfalls eine Teilmenge im R2, mit der Morsefunktion f(x,y)=y.

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Hier hat man 2 Minima und 2 Maxima, dementsprechend 2 0-Henkel und 2 1-Henkel.
Von unten anfangend hat man zunächst zwei Intervalle (0-Henkel) und klebt dann zuerst ein Intervall (1-Henkel) an zwei Endpunkte unterschiedlicher Intervalle und danach ein weiteres Intervall (den zweiten 1-Henkel) an die beiden anderen Endpunkte der Intervalle:

Analog kann man sich Morsefunktionen mit 3,4,5,… Minima und genausovielen Maxima basteln, und damit dann Henkelzerlegungen mit 3,4,5,… 0-Henkeln und genausovielen 1-Henkeln. (Dass es gleichviele 0- und 1-Henkel sein müssen ergibt sich daraus, dass die Euler-Charakteristik des Kreises 0 ist.)

Man sieht: Henkelzerlegungen sind nicht eindeutig. (Denselben Effekt hat man natürlich auch bei Flächen oder höher-dimensionalen Mannigfaltigkeiten: durch “Ausbeulen” von Flächen können zusätzliche kritische Punkte entstehen, die in der Henkelzerlegung dann zusätzlichen Henkeln entsprechen, umgekehrt kann man Ausbeulungen wieder glattstreichen, daurch die Anzahl der kritischen Punkte und Henkel wieder verringern.)

Wieviele unterschiedliche Morse-Funktionen gibt es auf einer Fläche? (Unterschiedlich im Sinne von: geben unterschiedliche Henkelzerlegungen, wie in den Bildern oben.)
In gewisser Weise wird diese Frage durch die Cerf-Theorie beantwortet: zwei unterschiedliche Morsefunktionen können durch eine Homotopie verbunden werden, in deren Verlauf nur endlich viele birth/death-Übergänge (also das Entstehen eines zusätzlichen kritischen Punktes wie im Bild oben oder der entgegengesetzte Prozess) vorkommen und die Anzahl (und die Indizes) der kritischen Punkte ansonsten immer gleich bleiben.
Eine naheliegende Übersetzung für birth/death wäre “Werden und Vergehen”, aber der Ausdruck hat es bisher noch nicht in die Fachsprache geschafft. Ist wohl zu poetisch.


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Kommentare (1)

  1. #1 MichiS
    24. März 2012

    Danke Thilo für die geometrischen und poetischen Darstellungen…wenn ich noch etwas Plastilin zum Basteln neben den PC nehme, begreif ich die Sache mit den Henkeln langsam …:-)