Letzte Woche hatten wir die Windungszahl einer Kurve (um einen Punkt) definiert, welche anschaulich ausdrückt, wie oft sich die Kurve um diesen Punkt herumwickelt.

Während einer Verformumg (“Homotopie“) einer Kurve kann sich die Windungszahl um einen Punkt ändern – aber nur, wenn die Kurve während der Homotopie durch den Punkt geht. Bei einer Homotopie, die zu keiner Zeit durch den Punkt hindurchgeht, ändert sich die Windungszahl um den Punkt nicht.

Reguläre Kurven und die “Ableitungs-Kurve” des Tangentialvektors

Wir wollen ja – als Gegenanalogie zur vor 2 Wochen im Video gezeigten Umstülpung der 2-dimensionalen Sphäre im Raum – zeigen, dass sich reguläre Kurven in der Ebene nicht umstülpen lassen.
Zur Begriffsklärung: eine reguläre ebene Kurve ist eine Immersion der S1 in den R2, die Ableitung ist an keiner Stelle 0. (Das ist in diesem speziellen Fall eine Umformulierung der Definition von “Immersion”.)
Und man erlaubt nicht beliebige Homotopien, sondern reguläre Homotopien, d.h. zu jedem Zeitpunkt der Homotopie hat man wieder eine Immersion (d.h. eine reguläre Kurve).

In jedem Punkt einer reguläre Kurve hat man die Ableitung, einen von Null verschiedenen Vektor.
Die punktweise Ableitung γ’ einer regulären Kurve γ:S1–>R2 definiert also ihrerseits eine Kurve γ’:S1–>R2-{(0,0)}, die nicht durch den Nullpunkt verläuft.

< Anschaulich handelt es sich um die Kurve des Tangentialvektors. Zum Beispiel für den Standard-Kreis γ(t)=(cos(t),sin(t)) ist die Kurve der Tangentialvektoren gegeben durch γ'(t)=(-sin(t),cos(t)). (In diesem Fall ist das gerade die um 900 gedrehte Kurve γ, aber das ist natürlich Zufall, bei anderen Kurven ist das nicht der Fall.)

In dem (schon vor 2 Wochen verlinkten) Video ‘Turning the sphere inside out’ wird die “turning number” von Kurven (als Einstimmung auf den schwierigeren 2-dimensionalen Fall) zwischen Minute 4 und Minute 7 erklärt.

Reguläre Homotopien und die Windungszahl der “Ableitungs-Kurve”

Wenn man eine reguläre Homotopie hat, kann man dies natürlich auf jede der in der Homotopie vorkommenden Kurven anwenden und bekommt also insbesondere eine Homotopie der “Ableitungs-Kurven”, die zu keinem Zeitpunkt der Homotopie durch den Nullpunkt verlaufen.

Da die “Ableitungs-Kurven” γ’ zu keiner Zeit der Homotopie durch (0,0) laufen, bleibt die Windungszahl um (0,0) während der Homotopie erhalten – nicht für γ selbst, aber für die “Ableitungs-Kurve” γ’.

(Es gilt übrigens auch die Umkehrung: wenn die Windungszahlen der “Ableitungs-Kurven” gleich sind, dann sind die Kurven homotop – das ist das Whintey-Graustein-Theorem. Statt der “Ableitungs-Kurve”, also der Kurve der Tangentialvektoren, kann man übrigens auch die Kurve der Normalenvektoren verwenden, diese wird in der Differentialgeometrie als Gauß-Abbildung bezeichnet und ihre Windungszahl ist dieselbe – es handelt sich ja nach Normierung nur um die um 900 gedrehte Kurve der Tangentialvektoren. Und auch die Windungszahl der “Ableitungs-Kurve” läßt sich differentialgeometrisch interpretieren: es handelt sich um die Totalkrümmung, d.h. man integriert die Krümmung über die Kurve.)

‘Turning the circle inside out’ -unmöglich

Jedenfalls können zwei reguläre Kurven nur dann regulär homotop sein, wenn die Windungszahlen ihrer Ableitungs-Kurven um (0,0) übereinstimmen, und das kann man nun nutzen, um zu zeigen, dass die Standard-Einbettung des Kreises nicht regulär homotop zu seiner Umstülpung ist.

Für die Standard-Einbettung des Kreises
γ(t)=(cos(t),sin(t)) ist die Ableitung
γ'(t)=(-sin(t),cos(t))=(cos(t+900),sin(t+900)) und deren Windungszahl ist 1.

Dagegen ist für die Einbettung
γ(t)=(cos(-t),sin(-t))
die Ableitung γ'(t)=(sin(-t),-cos(-t))=(cos(-t-900),sin(-t-900)) mit Windungszahl -1.

Also gibt es keine reguläre Homotopie zwischen den beiden Kurven.

Wie gesagt gilt nach dem Whitney-Graustein-Theorem auch die Umkehrung: wenn zwei Kurven dieselbe Drehzahl haben, dann sind sie regulär homotop. Wie sich diese Aussage ins 3-dimensionale verallgemeinern läßt, dazu nächste Woche.

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Kommentare (6)

  1. […] Letzte Woche hatten wir gesehen, wie man die regulären Homotopieklassen regulärer Kurven im R2 unterscheiden kann: durch die Kurve ihrer Tangentialvektoren, d.h. (die Homotopieklasse) der Abbildung γ’:S1–>R2-{(0,0)}. Wegen π1(R2-{(0,0)})=Z gibt es unendlich viele reguläre Homotopieklassen von Kurven, die durch die Windungszahl von γ’ um (0,0) unterschieden werden. […]

  2. […] Vor 2 Wochen hatten wir gesehen, wie man die regulären Homotopieklassen regulärer Kurven im R2 (aka Immersionen S1–>R2) unterscheiden kann, nämlich durch die Kurve ihrer Tangentialvektoren. Letztere gibt, wenn man so will, eine Abbildung S1–>V1(R2), wenn man in jedem Punkt jeweils den Tangentialvektor auf Länge 1 normiert. Der Satz von Whitney-Graustein besagte dann gerade, dass diese Zuordnung eine Bijektion von der Menge der regulären Homotopieklassen von Immersionen S1–>R2 auf die Gruppe π1(V1(R2))=Z definiert. […]

  3. […] Teil 236, Teil 237, Teil 238, Teil 239, Teil 240, Teil 241, Teil 242, Teil 243, Teil 244, Teil 245, Teil 246, Teil 247, Teil 248, Teil […]

  4. […] Teil 236, Teil 237, Teil 238, Teil 239, Teil 240, Teil 241, Teil 242, Teil 243, Teil 244, Teil 245, Teil 246, Teil 247, Teil 248, Teil 249, Teil 250, Teil 251, Teil […]

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