Werteverteilungstheorie fragt danach, wie oft ein Wert a von einer Funktion f:C—->C angenommen wird.
Für Polynome liefert der Fundamentalsatz der Algebra eine Werteverteilungstheorie: Ein Polynom vom Grad d hat (mit Vielfachheiten gezählt) genau d Nullstellen und nimmt auch jeden anderen Wert (mit Vielfachheiten gezählt) d-mal an.
Weiter hat man auch eine quantitative Aussage: das Maximum Mr des Polynoms auf dem Kreis vom Radius r wächst wie rd.
Anders formuliert: jeder endliche Wert wird (mit Vielfachheiten gezählt) gleich oft angenommen und diese Anzahl erhält man als Ordnung des Wachstums des Maximums der Funktionswerte auf dem Kreis vom Radius r.
Für ganze Funktionen hat man ähnliche Eigenschaften, wobei die Rolle des Grads eines Polynoms durch die Ordnung der ganzen Funktion übernommen wird. Weiter besagt der “kleine Satz von Picard”, dass alle Werte bis auf höchstens einen angenommen werden. Jensens Formel
verbindet Nullstellen und Wachstum.
Anders sieht es für Funktionen mit Singularitäten aus. In einer Umgebung einer wesentlichen Singularität nimmt eine analytische Funktion jeden Wert (bis auf höchstens einen) unendlich oft an – das ist der 1879 bewiesene „große Satz von Picard“. Das Bild unten zeigt die Funktion f(z)=exp(1/z), die in z=0 eine wesentliche Singularität hat und in jeder Umgebung der 0 jeden Wert (mit Ausnahme der 0) unendlich oft annimmt.
Für meromorphe Funktionen (die also keine wesentlichen Singularitäten haben) erhält man aus Picards Theorem, dass alle Werte (bis auf höchstens zwei) unendlich oft angenommen werden. Zum Beispiel nimmt f(z)=1/(1-e1/z) die Werte 0 und 1 nicht an.
Nevanlinnas 1925 in Acta Mathematica veröffentlichte Werteverteilungstheorie liefert eine viel stärkere quantitative Version von Picards Theorems für meromorphe Funktionen.
Die genaue Formulierung erfordert einige Definitionen.
Als Anzahlfunktion n(r,a) bezeichnet man die (mit Vielfachheiten gezählte) Anzahl der Lösungen von f(z)=a in der abgeschlossenen Kugel B(0,r).
Als integrierte Anzahlfunktion bezeichnet man
(Für a=f(0) muss man diese Definition noch modifizieren.)
Die Schmiegungsfunktion ist dann zunächst für a=∞ definiert durch
und für andere Werte von a durch m(r,a):=m(r,∞,1/(f-a)).
Schließlich definiert man die charakteristische Funktion durch T(r)=N(r,∞)+m(r,∞). (Nevanlinna zeigt, dass sie für nichtkonstante meromorphe Funktionen unbeschränkt wächst.)
Nevanlinnas erster Hauptsatz besagt für alle a. Er ist eine Anwendung der die Nullstellen ai und das Wachstum von f in Zusammenhang bringenden Jensenschen Formel für meromorphe Funktionen (die sich von der Jensenschen Formel für ganze Funktionen dadurch unterscheidet, dass man im ersten Summanden der rechten Seite nicht nur über die Nullstellen, sondern mit entgegengesetztem Vorzeichen auch über die Polstellen addiert) und sie wird so interpretiert, dass die über den Kreis vom Radius r gemittelte Anzahl der Lösungen von f(z)=a plus den Korrekturterm m(r,a) für r gegen Unendlich - bis auf für r≤R beschränkte additive Größen - einen von a unabhängigen Wert beibehält. Hat man beispielsweise einen Picardschen Ausnahmewert, für den also N(r,a)=0 ist, dann wird der Mangel an a-Stellen dadurch ausgeglichen, dass die Funktion im Mittel sehr wenig von a abweicht, die Schmiegefunktion m(r,a) also relativ groß ausfällt. Das gilt entsprechend auch, wenn der Wert a nur relativ selten angenommen wird.
Wichtiger und schwerer zu beweisen ist der zweite Hauptsatz, der eine Aussage über die relative Größe der Summanden N(r,a) und m(r,a) in der (laut erstem Hauptsatz) annähernd invarianten Summe N(r,a)+m(r,a) macht, also gerade die selten angenommenen Ausnahmewerte beschreiben soll.
Beispielsweise ist für f(z)=ez der Wert a=0 ein Ausnahmewert mit N(r,0)=0. Für diesen ist m(r,0)=r/π, während man für alle von 0 und ∞ verschiedenen Werte N(r,a)=r/π+O(1) und m(r,a)=O(1) hat. Das deutet darauf hin, dass für die meisten Werte a der Anteil von N gegenüber m relativ groß ist, was sich allgemein mit gewissen Mittelwertsätzen beweisen läßt.
Nevanlinnas zweiter Hauptsatz besagt nun, dass für k verschiedene komplexe Zahlen a1,...,ak stets gilt: .
Dabei ist der Verzweigungsindex Nram(r) beschränkt für r>0. Man erhält also für hinreichend große r eine untere Schranke für die Summe der N(r,aj). Zusammen mit der oberen Schranke aus dem ersten Hauptsatz liefert das die Verallgemeinerung des Fundamentalsatzes der Algebra.
Mit diesem Satz bekommt man weitgehende Folgerungen über die Werteverteilung meromorphe Funktionen.
Zunächst ergibt sich mit k=3 unmittelbar die Folgerung aus dem großen Satz von Picard: weil die rechte Seite mit r gegen Unendlich geht, muß für drei beliebige Werte ai die Summe - und mithin mindestens einer der drei Summanden - mit r gegen Unendlich gehen. Es werden also bis auf zwei alle Werte unendlich oft angenommen.
Als erste neue Anwendungen bewies Nevanlinna einige Eindeutigkeitssätze, beispielsweise dass für meromorphe Funktionen f,g die Gleichheit f=g folgt, sobald zu 5 Punkten a1,...,a5 die Lösungsmengen von f(z)=aj und g(z)=aj jeweils übereinstimmen.
Die Nevanlinna-Theorie erwies sich später als wesentliches Hilfsmittel bei der Untersuchung von Differentialgleichungen und Funktionalgleichungen im Komplexen. Nevanlinnas erste Anwendung war zunächst 1929 auf die Differentialgleichung f‘‘+P(z)f=0 mit einem Polynom P. Yosida bewies 1934 mit Hilfe der Hauptsätze, dass die Gleichung (f‘)n=R(z,f(z)) für ein Polynom R - falls sie nicht eine hyperriccatische Gleichung ist - eine eindeutige Lösung hat, die eine rationale Funktion ist. Wittich entwickelte dann ab 1942 systematisch die Anwendungen der Nevanlinna-Theorie auf die Lösungen komplexer Differentialgleichungen.
Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rolf-Nevanlinna-1958.jpg
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