“Sehr unterhaltsame Einblicke in die Geisteswelt führender Mathematiker”

verspricht ein neues Buch von David Ruelle. (Das Original “The Mathematicians Brain” erschien 2007 bei Princeton University Press, die deutsche Übersetzung vor einigen Wochen im Springer-Verlag. )

Der Springer-Verlag hat mir freundlicherweise ein Rezensions-Exemplar zur Verfügung gestellt und ich werde in den nächsten Wochen auf verschiedene Aspekte aus den einzelnen Kapiteln des Buches ausführlicher eingehen.

“An idiosyncratic, oddly intriguing work.”–J. Mayer, Choice

Worum geht es in dem Buch?

Das Buch ist kein wissenschaftliches oder philosophisches Manifest, sondern will einen Überblick über das Was, Wie und Warum mathematischer Forschung im 20. und 21. Jahrhundert vermitteln. Alle Themen werden nur kurz angerissen, es werden jeweils die verschiedenen Ansichten unterschiedlicher Mathematiker (und des Autors selbst) vermittelt. Alles ist bewußt subjektiv gehalten, meist werden keine abschließenden Antworten gegeben, man bekommt einen Eindruck über die “Probleme” der Mathematiker, gerade auch über diejenigen, die sich nicht in die “offiziellen” wissenschaftlichen und wissenschaftsphilosophischen Diskussionen einordnen lassen.

Ruelle ist vor allem bekannt durch seine grundlegenden Beiträge zu dynamischen Systemen und mathematischen Fragen der statistischen Physik. Im Buch spielen diese Themen und überhaupt die Beziehungen der Mathematik zu Physik und Naturwissenschaften aber eine eher untergeordnete Rolle. Zentrales Thema sind die Grundlagen der Mathematik, die Beispiele kommen meist aus der Geometrie, Grundlagenfragen (Logik, Mengenlehre, …) werden ausführlich erörtert, wenn mal von aktueller Forschung die Rede ist, geht es oft um Themen aus Algebra und Algebraischer Geometrie (Ruelle war ein Kollege Grothendiecks als Professor am IHES).

Zielgruppe dürften vor allem mathematisch interessierte Studenten und Schüler sein, die in einem “Crash-Kurs” anekdotische Eindrücke von den “grundsätzlichen” Problemen heutiger Forschung bekommen wollen. Man kann die einzelnen Kapitel unabhängig voneinander lesen und vielleicht sollte man das auch tun. Viele Leser werden die einleitenden Kapitel über “Wissenschaftliches Denken” und “Was ist Mathematik?” nicht brauchen und besser gleich in spätere Kapitel über Vor- und Nachteile der Bourbakisierung oder die Komplexität mathematischer Beweise einsteigen.

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Das Titelbild zeigt übrigens die Faserung des Kleeblattschlingen-Komplements, über die wir vorgestern und letzte Woche gerade geschrieben hatten.

Wie gesagt, in den nächsten Wochen werde ich einige der im Buch aufgegriffenen Themen hier noch etwas vertiefen. Hier schon mal das Inhaltsverzeichnis:

1 Wissenschaftliches Denken
2 Was ist Mathematik?
3 Das Erlanger Programm
4 Mathematik und Ideologie
5 Die Einheitlichkeit der Mathematik
6 Ein kurzer Blick auf algebraische Geometrie und Arithmetik
7 Mit Alexander Grothendieck nach Nancy
8 Strukturen
9 Die Rechenmaschine und das Gehirn
10 Mathematische Texte
11 Ehrungen
12 Die Unendlichkeit: Nebelwand der Götter
13 Fundamente
14 Strukturen und die Entwicklung von Konzepten
15 Turings Apfel
16 Mathematische Erfindung: Psychologie und Ästhetik
17 Das Kreistheorem und ein unendlich-dimensionales Labyrinth
18 Fehler!
19 Das Lächeln der Mona Lisa
20 „Tinkering” und die Konstruktion mathematischer Theorien
21 Mathematische Erfindung
22 Mathematische Physik und emergentes Verhalten
23 Die Schönheit der Mathematik

Noch mehr Buchrezensionen auf ScienceBlogs:
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Kommentare (5)

  1. #1 Georg Hoffmann
    2. Mai 2010

    Vielleicht noch kurz, ob es dir gefallen hat oder nicht. Georg

  2. #2 Thilo Kuessner
    2. Mai 2010

    Das Buch is mega geil Spannend undso joar labert mich nich voll das is fast wie bei mir

    Im Ernst: das Buch ist klasse – für mich (heute) war es aber nicht so spannend wie es für mich vor 15 Jahren gewesen wäre, einfach weil ich natürlich manche der Beispiele schon kannte und weil es um Fragen geht, die auch sonst unter Mathematikern öfter mal beim Essen o.ä. diskutiert werden.

    (Diskussionen, die sonst nur “intern” geführt werden, sind hier mal für ein breiteres Publikum dargestellt, ohne komplizierte philosophische oder erkenntnistheoretischen Theorien – jeder an Mathematik Interessierte wird seinen Gedanken, Beispielen und Anekdoten folgen können.)

    Wenn man sich sowieso mit mathematischer Forschung beschäftigt, kennt man natürlich vieles schon und hakt dann beim Lesen eher ab, ob man die Dinge genau so sieht. Das wäre jetzt ein weites Feld und ich schreib ja noch mehr zum Buch.

  3. #3 rank zero
    3. Mai 2010

    Zentralblatt-Besprechung des Originals unter Zbl 1131.00001; die der Übersetzung derzeit noch unterwegs.

  4. #4 Thilo Kuessner
    3. Mai 2010

    @ rank zero:
    Was hat der Autor der Zentralblattbesprechung eigentlich gegen Ruelle’s Normalteiler-Begriff?

    On page 142, one “learns” that the kernel of a group morphism is called (sic) a normal subgroup.

    Das ist völlig korrekt (auch wenn es sonst anders eingeführt wird): eine Untergruppe H in G ist ein Normalteiler genau dann, wenn sie Kern eines Gruppenhomomorphismus ist (nämlich des Homomorphismus G–>G/H).
    Klingt doch fast bourbaki-stylish.

  5. #5 rank zero
    4. Mai 2010

    Finde seinen Einwand auch zu formalistisch, aber er stößt sich ja offenbar schon an der Verwendung von “called” (statt “defined” o.ä.). Ich habe auch den Normalteilerbegriff meist erst über Kerne motiviert, da Erstsemester oft keine Vorstellung mit Links- oder Rechtsnebenklassen verbinden (eigentlich seltsam, Translation ist ja etwas sehr natürliches – aber Nichtkommutativität eben ungewohnt). Typische Aufgabe: Versuche, einen Homomorphismus von S_3 mit zweielementigem Kern zu finden – danach hat man oft ein erstes Gefühl.