Wie werden neue mathematische Sätze gefunden? Standardwerkzeuge und ‘kultureller’ Hintergrund.

In meiner Jugend bekam ich eine bekannte polnische Gesangstechnik mit sehr kräftigen, schrillen Frauenstimmen zu hören, die mir sehr gefiel. Leider habe ich diese Art des Gesangs seit vielen Jahren nicht mehr gehört. Da ich des Polnischen nicht mächtig bin, verstand ich die Texte der Lieder nicht, was jedoch keine allzu große Rolle spielte. Wichtig war der ungewöhnlich schrille Klang.

So beginnt das 17. Kapitel von Wie Mathematiker ticken. Wie zu erwarten, soll mit dieser Einleitung ein längerer Absatz (2 Seiten) über ‘echte’ Mathematik vorbereitet werden, den ein Laie sicher nicht inhaltlich nachvollziehen kann, der aber einen Eindruck vom ‘Klang’ richtiger Mathematik vermitteln soll.
Es geht um das Kreistheorem von Lee-Yang (“Statistical Theory of Equations of State and Phase Transitions”, Phys. Rev. 1952, das Theorem besagt, daß die Nullstellen bestimmter Polynome Betrag 1 haben) und um den einfacheren Beweis dieses Theorems durch Asano (“Theorems on the Partition Functions of the Heisenberg Ferromagnets”, J.Phys.Soc.Jpn. 1970). Ruelle’s Originalarbeit dazu ist “Some remarks on the partition of zeroes of the partition function for lattice systems”.

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Was dieses Beispiel eines Beweises aus der (relativ) aktuellen Forschung vermitteln soll: Mathematiker, die einen Satz beweisen wollen, leiten diesen nicht aus den Axiomen der Mathematik (d.h. der ZFC-Mengenlehre) her, sondern sie bauen auf einem bestimmten ‘kulturellen’ Hintergrund auf, d.h. sie benutzen Sätze, die bereits bekannt sind und versuchen mit deren Hilfe den neuen Satz zu beweisen. Diese Anwendung bekannter Sätze erfolgt natürlich oft auf eine nicht-offensichtliche Weise, mehrere bekannte Sätze werden geschickt kombiniert oder es sind noch langwierige Argumente notwendig, um die Anwendbarkeit (d.h. das Erfülltsein der Voraussetzungen) eines bekannten Satzes zu überprüfen.

Im Beispiel, dem Kreistheorem von Lee-Yang, geht es darum zu beweisen, daß die Nullstellen bestimmter Polynome den Betrag 1 haben (d.h. auf dem Einheitskreis der komplexen Zahlenebene liegen).
Wie kann man dieses Problem mit Hilfe bekannter mathematischer Sätze lösen?
Ein naheliegender Ansatz wäre folgender: Bekanntlich liegen die Eigenwerte einer unitären Matrix auf dem Einheitskreis. Ebenso ist bekannt, daß die Eigenwerte einer Matrix gerade die Nullstellen ihres charakteristischen Polynoms sind. Also könnte man das Lee-Yang-Theorem beweisen, in dem man zeigt, daß die dort vorkommenden Polynome immer charakteristische Polynome unitärer Matrizen sind. Das wäre ein naheliegender Ansatz, um das Lee-Yang-Theorem auf bekannte Tatsachen zurückzuführen, aber er scheint nicht zu funktionieren, jedenfalls ist es bisher niemandem gelungen.
Asano’s Beweis benutzt ebenfalls einen bekannte Satz, nämlich den Fundamentalsatz der Algebra, aber auf eine nicht-offensichtliche Weise. Der Fundamentalsatz der Algebra besagt, daß jedes Polynom komplexe Nullstellen hat – eine Aussage, die a priori mit der Aussage des Lee-Yang-Theorems nichts zu tun hat. Asano benutzt nicht ins Auge springende Umformungen, um die Aussage des Lee-Yang-Theorems (für eine bestimmte Klasse von Polynomen liegen die Nullstellen auf dem Einheitskreis) auf die Existenz von Nullstellen für andere Polynome herzuleiten.

(Die Polynome, um die es im Kreistheorem geht, sind übrigens die Zustandssummen von Gittermodellen.)

Der kulturelle Hintergrund der heutigen Mathematik enthält technische Werkzeuge, mit deren Hilfe wir die unterschiedlichsten Probleme effizient bewältigen können. (Unsere Werkzeugpalette ist das Ergebnis der Selektion effizienter Werkzeuge durch unsere kulturelle Evolution.) Ein einfacher Beweis des Lee-Yang-Satzes ist somit nicht ein kurzer Beweis, der bei den Axiomen von ZFC ansetzt; es handelt sich hier vielmehr um einen kurzen Beweis, der bei Standardwerkzeugen (in diesem Fall sind es ‘elementare’ Werkzeuge) der Algebra ansetzt.

Weiter geht es dann noch darum, daß auch Beweise, die (im Nachhinein) recht einfach sind, trotzdem schwer zu finden sein können – wie ein Paßwort, das schwer zu knacken ist, auch wenn man es sich (im Nachhinein) leicht merken kann:

Die Werkzeugpalette eines Mathematikers ist vergleichbar mit dem Autobahnnetz, das einem Reisenden zur Verfügung steht: Beide stellen die Mittel bereit, effizient von A nach B zu gelangen. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied: Die Wahl einer effizienten Reiseroute über die Autobahn ist normalerweise eine einfache Sache; für die Wahl einer effizienten mathematischen Route zum Beweis eines Theorems gilt dies nicht.
[…]
Im Autobahnnetz spiegelt sich die Geografie eines Landes, die uns auch durch andere Methoden vertraut ist, sodass der Bau einer neuen Strasse unser geografisches Wissen nicht wesentlich verändern wird. Die Werkzeugpalette in der Mathematik spiegelt die innere Struktur der Mathematik wieder und stellt letztlich die einzige Kenntnis dar, die wir von dieser inneren Struktur haben, sodass der Bau einer neuen Theorie unsere Vorstellung von den strukturellen Wechselbeziehungen einzelner Teilbereiche der Mathematik verändern kann.

Das ‘unendlich-dimensionale Labyrinth’ in der Kapitel-Überschrift bezieht sich übrigens darauf, daß von Menschen betriebene Mathematik ein Labyrinth aus Ideen ist, welches Mathematiker auf der Suche nach Beweisen durchwandern.

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