Der gesunde Menschenverstand geböte, kompakte und nicht schmutzende Speisen zu servieren. Es müssen nicht unbedingt Enervit-Täfelchen sein. Kompakte
Speisen sind Wiener bzw. Mailänder Schnitzel, Gegrilltes, Käse, Pommes frites und Brathähnchen.
(Umberto Eco: Speisen im Flugzeug)

Die Kompaktifizierung des Teichmüllerraums ist ein wichtiges Hilfsmittel bei der Klassifikation der Selbstabbildungen von Flächen.

Kompaktheit

“Kompaktheit” ist vermutlich DER Begriff, der im ersten Semester eines Mathematikstudiums die meisten Schwierigkeiten bereitet. Nicht so sehr, weil die Definition so kompliziert wäre (meist wird ja im ersten Semester nur die einfachere Definition der Folgenkompaktheit für metrische Räume statt der allgemeinen Definition behandelt), sondern weil es sich zunächst nicht erschließt, was der Sinn gerade dieser Definition sein soll. Letzterer erschließt sich dann natürlich im weiteren Verlauf des Mathematik-Studiums: der Begriff ‘kompakt’ erlaubt es viele Sätze und Theorien griffig zu formulieren – viele Sätze gelten zwar nicht für beliebige Mengen, aber eben für alle kompakten Mengen, während man für nichtkompakte Mengen oft keine allgemeinen Sätze hat und viele Möglichkeiten einzeln untersuchen muß. Um ein anwendungs-relevantes Beispiel herauszugreifen: man kann beweisen, daß die Lösungen einer Differentialgleichung auf einer kompakten Mannigfaltigkeit (ohne Rand) für alle Zeiten existieren – auf nichtkompakten Mannigfaltigkeiten muß man das für jede Differentialgleichung einzeln untersuchen. Oder ein Beispiel, das wir hier noch brauchen werden: jede stetige Selbstabbildung einer kompakten, konvexen Teilmenge des Rn hat einen Fixpunkt (Brouwers Fixpunktsatz) – das stimmt für Selbstabbildungen nichtkompakter Mengen nicht immer.
(Zum Nutzen des Begriffs ‘Kompaktheit’ und der philosophischen Frage nach der Nützlichkeit von Begriffen siehe auch Ruelle 14.)

Kompaktifizierungen

Weil man die Mathematik auf kompakten Mengen besser versteht als auf nichtkompakten, versucht man naheliegenderweise, nichtkompakte Mengen zu “kompaktifizieren”, d.h. sie als Teilmenge einer kompakten Menge aufzufassen. Dafür gibt es natürlcih sehr viele verschiedene Möglichkeiten. Man kann Räume schon durch Hinzunahme nur eines Punktes kompaktifizieren, die sogenannte Alexandrov-Kompaktifizierung. Zum Beispiel erhält man aus der (nichtkompakten) Ebene durch Hinzunahme eines Punktes die (kompakte) Sphäre – das sieht man am besten mit der stereographischen Projektion, die jeden Punkt der Sphäre mit Ausnahme des Nordpols N jeweils einem eindeutigen Punkt der Ebene zuordnet.

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Quelle

Es gibt viele Kompaktifizierungen einer gegebenen Menge, die in gewisser Weise “größte” ist die Stone-Cech-Kompaktifizierung.
Es kommt natürlich auf das jeweilige Problem an, welche Kompaktifizierung man sinnvollerweise benutzen wird. Wenn man etwa den Lösungsraum einer Gleichung, z.B. einer Differentialgleichung, betrachtet und dieser ist nichtkompakt, dann läßt er sich manchmal durch Hinzunahme gewisser “degenerierter” Lösungen kompaktifizieren. Ein typisches Beispiel ist der Raum der pseudoholomorphen Kurven (d.h. der Lösungsraum der Cauchy-Riemann-Gleichung auf einer Riemannschen Fläche). Unter bestimmten Bedingungen sind diese Lösungsräume kompakt, unter anderen sind sie nichtkompakt, man kann die Lösungsräume aber kompaktifizieren, indem man sogenanntte Bubble-Bäume zuläßt: nichtkonvergente Folgen pseudoholomorpher Kurven erhält man z.B. dadurch, daß sich die ‘Energie’ der Kurven in einem Punkt konzentriert; nach Reskalierung entsteht eine an diesen Punkt angehängte Sphäre (‘bubble’), auf die man die Abbildung ausdehnen kann, dabei entstehen evtl. neue Bubbles etc. Die Kompaktifizierung erhält man letztlich als Raum aller stabilen Abbildungen.

Auch wenn man Modulräume irgendwelcher mathematischer Objekte kompaktifizieren will, tut man das in der Regel nicht irgendwie (also nicht mit Alexandrov oder stone-Cech), sondern in dem man geeignete Entartungen der jeweiligen Objekte hinzunimmt. Man muß also zunächst verstehen, warum der Modulraum nichtkompakt ist, also was mit nichtkonvergenten Folgen von Objekten passiert, warum sie nicht konvergieren. Kompaktheit heißt ja, daß jede Folge einen Häufungspunkt haben muß. Nichtkompaktheit heißt also im Prinzip, daß es Folgen gibt, deren Grenzwerte innerhalb der Menge nicht existieren, sozusagen nicht zur Menge gehören.

Kompaktifizierung des Teichmüllerraums

Der Teichmüllerraum ist der Modulraum aller hyperbolischen Metriken auf einer gegebenen Fläche. In TvF 149 hatten wir mal beschrieben, daß man die hyperbolischen Metriken durch die Längen bestimmter Kurven (und bestimmte Twist-Winkel entlang dieser Kurven) beschreiben kann.

Wie könnte nun eine nicht-konvergierende Folge im Teichmüller-Raum aussehen?
Ein naheliegendes Beispiel: eine Folge hyperbolischer Metriken, so dass die Länge einer bestimmten Kurve gegen 0 konvergiert. Der Grenzwert wäre sozusagen eine ‘entartete Metrik’, bei der diese Kurve zu einem Punkt zusammengedrückt (‘pinched’) ist.

Ein komplizierteres Beispiel: mehrere Kurven, deren Längen unterschiedlich schnell gegen 0 konvergieren. Der (nicht-existierende) Grenzwert wird also beschrieben durch einige Kurven und diesen Kurven zugeordnete Zahlen.
Das macht es vielleicht plausibel, daß man den Teichmüller-Raum durch Hinzunahme gemessener (singulärer) Blätterungen kompaktifizieren kann.
Singuläre Blätterungen hatten wir in TvF 142 mal beschrieben. Im Prinzip handelt es sich um eine Zerlegung der Fläche in Kurven (und einige singuläre Punkte). Das ‘Maß’ ordnet jeder Transversale eine Zahl zu. (Im Beispiel einer einzelnen Kurve würde jeder Transversale durch diese Kurve die Zahl 1 und jeder anderen Transversale die Zahl 0 zugeordnet werden.)
Man sagt dann noch, daß zwei gemessene Blätterungen äquivalent sind, wenn es sich um dieselben Blätterungen handelt und das eine Maß aus dem anderen durch Multiplikation mit einem konstanten Faktor entsteht.

Für eine Fläche mit g Henkeln ist die Menge der gemessenen Blätterungen (modulo Multiplikation mit konstantem Faktor) eine 6g-7-dimensionale Sphäre. Thurston hat in seiner Arbeit “On the geometry and dynamics of diffeomeorphisms of surfaces” gezeigt, daß man den (bekanntlich 6g-6-dimensionalen) Teichmüllerraum der hyperbolischen Metriken kompaktifizieren kann, indem man die 6g-7-dimensionale Sphäre der gemessenen Blätterungen ‘hinzunimmt’, und er hat diese Kompaktifizierung des Teichmüllerraums dann benutzt, um (mit Hilfe einer Anwendung des Brouwerschen Fixpunktsatzes auf diese kompakte Menge) seine Klassifikation der Diffeomorphismen von Flächen zu beweisen. Dazu nächste Woche.


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