Als wahrscheinlichste – weil am ehesten Gödels Denken entsprechende – Variante macht Guerra-Pujol die folgende aus:
i) die Verfassung enthält eine endliche Anzahl von gesetzlichen Bestimmungen oder “Verfassungserklärungen”; (ii) eine dieser Erklärungen enthält eine Änderungsbefugniserklärung, die Änderungen der Verfassung erlaubt, wenn bestimmte Bedingungen oder Verfahrensschritte erfüllt sind; (iii) die Änderungsbefugnis kann verwendet werden, um sich selbst zu ändern; und (iv) wenn sich die Änderungsklausel selbst ändern kann, können alle ausdrücklichen und impliziten Einschränkungen der Änderungsbefugnis durch eine Verfassungsänderung überwunden werden.

Guerra-Pujol identifiziert eine Reihe weiterer Fehler in der Verfassung, die aber seiner Meinung nach nicht das gewesen sein dürften, was Gödel meinte. Die Commerce Clause könnte eine Diktatur ermöglichen, denn jede politische Entscheidung betrifft den Handel. Ebenso könnte der Armee und Polizei unter alleiniges Kommando des Präsidenten stellende Artikel 2 eine Diktatur ermöglichen, oder das richterliche Prüfungsrecht, oder die Klausel, derzufolge der Kongreß neue (dem Präsidenten wohlgesonnene) Staaten aufnehmen könnte. Zur letzten Möglichkeit meint Guerra-Pujol: “this potential flaw is non-Gödelian because it is too complex and improbable to carry out from a practical perspective.”

Fehler im Weltgewebe

“Ich habe aufgedeckt, dass die Mathematik Inkonsistenzen enthält, dass das Weltgewebe fehlerhaft ist, und sie wollen behaupten, man hat keinen Grund, mich zu verfolgen” rechtfertigt – bei Kehlmann – Gödel im Gespräch mit Einstein seinen Verfolgungswahn.

Gödels Unvollständigkeitssatz – oft von raunenden Philosophen zitiert – wurde von Gödel selbst, soweit man weiß, nicht mit jener philosophischen Bedeutung aufgeladen, die ihm Kehlmann hier in den Mund legt. Er sah sich als Platoniker und den Unvollständigkeitssatz nicht als Nachweis eines Fehlers im Weltgewebe, sondern nur der Unmöglichkeit, die gesamte Mathematik zu einem formalen Gebilde ohne Bezug zur “realen Welt” zu machen.

Seine – heute jedem Mathematiker vertraute – Argumentation benutzt eine Abzählung aller Sätze eines formalen Systems, jedem Satz wird seine Gödelnummer zugeordnet. Er konstruiert eine Formel der Form “Der Satz mit der Nummer x ist nicht ableitbar” und zeigt mit Hilfe einer Diagonalisierung, dass es eine Einsetzung n für x gibt, sodass der Satz mit der Nummer n äquivalent zur Aussage “Der Satz mit der Nummer n ist nicht ableitbar” ist. Damit erhält er einen Satz mit der intuitiven Bedeutung “Ich bin nicht ableitbar”. Klassisches Lügnerparadox, nichts philosophisches.

Sehr zu empfehlen für Leser, die sich – mit ein wenig Interesse an Mathematik, aber ohne gleich sämtliche technische Details des Beweises verstehen zu wollen – über den Inhalt und die Konsequenzen des Gödelschen Unvollständigkeitssatzes informieren möchte, ist übrigens das im Spektrum-Verlag erschienene Buch von Dirk W. Hoffmann: “Grenzen der Mathematik”.

Douglas Hofstadter erklärt es in “Gödel, Escher, Bach” so:

Herr Schildkröte sagt, dass kein hinreichend mächtiger Plattenspieler in dem Sinn vollkommen sein kann, dass er jeden möglichen Ton auf einer Platte wiedergeben kann. Gödel sagt, dass kein hinreichend mächtiges formales System in dem Sinn vollkommen sein kann, dass es jede einzelne wahre Aussage als einen SATZ widergeben kann. Wie Herr Schildkröte aber im Hinblick auf Grammophone betont, kommt einem das nur dann als Mangel vor, wenn man unrealistische Erwartungen darüber hegt, was formale Systeme leisten sollten.

Topologie hilft beim Gerrymandering

In den USA wird seit einigen Jahren wieder verstärkt über “Gerrymandering” diskutiert, also das Verschieben von Wahlkreisgrenzen, um (unter den Bedingungen des amerikanischen Mehrheitswahlrechts) die voraussichtlichen Ergebnisse einer Partei zu optimieren. Nachdem Barack Obama 2017 das Thema auf seine Agenda setzte, haben sich auch zahlreiche Mathematiker mit dieser Frage befaßt.

Meist geht es dabei natürlich um reale Wahlkreise und ihren Zuschnitt. Aber auch für die theoretische Mathematik lassen sich aus dem Thema Probleme gewinnen. Zum Beispiel: kann man (bei vorab korrekt geschätztem Stimmverhalten) zumindest theoretisch eine maximal ungerechte Verteilung der Wahlkreise finden, die also der stärkeren Partei 100 Prozent der Wahlmänner oder der Sitze in Kongreß und Repräsentantenhaus sichert?

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Kommentare (7)

  1. #1 Michael
    2. Oktober 2020

    “Dieses Gespräch führte Kurt Gödel 1947 bei seinem Einbürgerungstest”

    Können Sei eine Quelle anführen? Kann im Internet nichts finden.

  2. #3 Michael
    2. Oktober 2020

    Vielen Dank!

  3. #4 Keno
    2. Oktober 2020

    Widersprüchlichkeit in einem Rechtsdokument wäre mein Ansatz, wenn ich dessen Gültigkeit in Frage stellen / beseitigen wollen würde.
    Ganz im Sinne Gödels kann man aber ja sagen: Wenn die US-Verfassung (als Axiomensystem) nicht widersprüchlich wäre, dann wäre sie auch nicht vollständig.
    Eine nicht vollständige Verfassung lässt aber “exploits” zu.

  4. #5 DH
    3. Oktober 2020

    Bei Gödels Aussagen muß ich an diesen Satz denken
    “Nur weil zu paranoid bist, heißt das nicht, daß sie nicht hinter dir her sind”.
    Hinter der Überschätzung von gerrymandering steht der gleiche Denkfehler wie hinter der Umrechnung von Wahlergebnissen, die im Mehrheitswahlrecht entstehen, auf Verhältniswahlrecht, und der Folgerung, es gäbe dann ganz andere Machtverhältnisse im Land.
    Da wird der Wähler massiv unterschätzt, der ist sehr wohl in der Lage, die Gesamtsituation zu beurteilen und sein Wahlverhalten anzupassen.
    Dieselbe Milchmädchenrechnung bezieht sich auf die “eigentlichen” Wahlsiege von H.Clinton oder Gore, es ist völlig unklar, wie sich anderes Wahlrecht oder andere Wahlkreise auf das Wahlverhalten auswirken.

  5. #6 Plutonier
    4. Oktober 2020

    1947 entdeckte Gödel in der amerikanischen kapitalistischen Verfassung keine justiziabel definierte Schranken für Ungerechtigkeit.
    Mit den Fakten aus dem Buch Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens von Robert Mitchel, konnte er mit der plutokratischen Verfassung die Diktatur der Plutokraten vorhersehen.

    2010 konnte ein amerikanischer Präsident wegen einer fehlenden Schranke seiner Verfassung den Geldfluss, der wie in einer Diktatur das Land austrocknend nach oben in wenige Reservoirs fließt, nicht beschränken und alles oberhalb der Schranke an sein Volk in Form von z.B. preiswerter Medizin nicht zurückführen, sondern maximal 40 Prozent des Vermögens eines amerikanischen Plutokraten weltweit nur dann einkassieren, wenn der Plutokrat nach seinem totalen Ausbeutungskrieg in ein Steuerparadies des Auslands umzieht.

    2019 wurde mit dem demokratischen Bundesverfassungsgerichtsurteil 1 BvL 7/16 eines Senats die von einem anderen Senat aus dem Verfassungswort Würde hergeleitete Schranke Existenzminimum vernichtet, um z.B. erwerbsfähige arbeitslose Mathematiker mit bis zu 100%igem Geldentzug begründet zu disziplinieren, wenn mathematikferne Mitarbeit trotz Arbeitsfähigkeit verweigert wird.

    Wie unterscheidet sich eine Diktatur von einer Demokratie?
    Eine Demokratie kann eine heimliche Diktatur sein, falls seine Bürokratie Menschenrechte und Bürgerrechte und Grundrechte ignoriert und die Medien nicht darüber berichten.
    Eine Diktatur hat keine Schranken.
    Eine Demokratie kann Schranken ignorieren.

  6. #7 Stephan
    7. November 2020

    Und die traurige Wahrheit ist, daß es gar keine Demokratie gibt, denn diese ist schon vor langer Zeit von der Ochlokratie vom Tisch gewischt worden.