Dass die Welt ungerecht ist, ist eine Binsenweisheit. Dass es in der Umwelt auch ungerecht zugeht, mag auf den ersten Blick verwundern, auf den zweiten Blick ist es aber nicht mehr sehr verwunderlich. Natürlich, oder vielleicht doch nicht so natürlich, unterscheiden sich die Wohnverhältnisse je nach sozialer Lage. So haben die Wohlhabenderen in der Regel mehr Grünflächen in der Nähe und weniger Schimmel in der Wohnung, ebenso wie sie meist nicht so nah an den lärm- und schadstoffbelasteten Hauptverkehrsstraßen wohnen und im Beruf oft nicht so vielen Schadstoffen ausgesetzt sind.
Es geht also um die sozial und ethnisch ungleiche Verteilung von Umweltbelastungen. Zum Zusammenhang von Umwelt, sozialer Lage und Gesundheit gibt es in Deutschland erstaunlich wenig Forschung. Seit einigen Jahren hält unter dem Stichwort „Umweltgerechtigkeit” allerdings auch hierzulande ein Diskurs Einzug, der in den USA als „environmental justice” schon länger etabliert ist.
Einen ersten Sammelband dazu haben meine Kollegin Gabriele Bolte und Andreas Mielck, der am Helmholtzzentrum München arbeitet, schon 2004 veröffentlicht. Nun haben sie, zusammen mit Christiane Bunge, Claudia Hornberg und Heike Köckler einen Folgeband herausgegeben. Er heißt wie sein Gegenstand schlicht „Umweltgerechtigkeit”, ist im Verlag Hans Huber erschienen und kostet stolze 39,95 Euro. Dafür bekommt man aber auch 440 Seiten aktuellen Sachstand zu diesem Thema, von theoretischen Überlegungen bis hin zu empirischen Untersuchungen über einzelne Sachfragen. Verkehr, Lärm, Schadstoffe – es ist alles dabei, Bestandsaufnahmen ebenso wie Lösungsvorschläge.
Etwas merkwürdig ist, dass dieser Diskurs in Deutschland erst jetzt wieder auflebt. In dem berühmten Buch „Krankheit und soziale Lage” von Max Mosse und Gustav Tugendreich aus dem Jahr 1913 beginnt der Abschnitt zur sozialen Ätiologie von Krankheiten mit einem langen Kapitel „Die Wohnung in ihrem Einfluss auf Krankheit und Sterblichkeit” von Erich Wernicke (der übrigens mit Emil von Behring das erste Diphtherie-Serum entwickelt hat, das nur nebenbei für Bildungsbeflissene). In diesem Buchkapitel wird ein erstaunlicher Erkenntnisstand über den Zusammenhang zwischen den Wohnverhältnissen ärmerer Schichten und ihrer Gesundheit ausgebreitet, von den gesundheitlichen Folgen feuchter Wohnungen über Staub- und Rauchbelastungen bis hin zur Tuberkulose. „Umweltgerechtigkeit” war damals ein Standardthema in der Sozialhygiene. Man hat es, wie den Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit insgesamt, in der Nachkriegszeit aus den Augen verloren und vor allem hatte es an den meist klinisch ausgerichteten medizinischen Lehrstühlen keine akademischen Fürsprecher mehr. Mit den Public Health-Lehrstühlen scheint sich das langsam wieder zu ändern. Forschungsbedarf gäbe es jedenfalls genug, Handlungsbedarf auch. Insofern sei das Buch „Umweltgerechtigkeit” allen, die die Entstehung von Krankheiten aus einer allgemeineren sozialen Perspektive heraus betrachten wollen, zur Lektüre empfohlen.
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