Eigentlich wollte ich nicht auch noch einen Blogbeitrag zur Beschneidungsfrage schreiben und damit die Diskussion zu diesem Thema hier auf scienceblogs weiter zersplittern. Schließlich gibt es schon ausführliche Debatten dazu bei astrodicticum, geograffitico und blooDNAcid. Und ich bin weder Religionswissenschaftler, noch Jurist, noch Arzt. Was habe ich also überhaupt zu dem Thema beizutragen? Die Antwort darauf ist auch der Grund, warum ich jetzt doch einen Beitrag dazu mache. Es geht mir um einige eher „politische” Überlegungen zum Verlauf der Beschneidungsdebatte.
Diese Debatte wird mit vielen Emotionen geführt, aber sie fördert auch viele Informationen zutage, die vorher so nicht im öffentlichen Bewusstsein präsent waren. Mir ist beispielsweise erst im Verlauf der Debatte klargeworden, dass die medizinische Bewertung der präventiven Beschneidung, im Gegensatz zur therapeutischen Beschneidung, nicht so einfach ist. Es gibt Pro- und Contra-Argumente und dabei spielen Rahmenbedingungen (z.B. um welche Länder und Gesundheitssysteme geht es) und Verfahrensvariationen (um welches Beschneidungsalter geht es, wer operiert, wird betäubt oder nicht usw.) eine wichtige Rolle. Allein bei Pubmed gibt es mehr als 1.500 Einträge, wenn man nur nach „male infant circumcision” sucht. Mit spezielleren Suchstrategien oder in anderen Datenbanken, z.B. Embase, habe ich gar nicht mehr gesucht. Zudem müsste man bei diesem Thema auch graue Literatur und Erfahrungsberichte einbeziehen, da möglicherweise die Studienlage allein nicht die ganze Wirklichkeit abbildet. Eine solche umfassende Evidenzsynthese, die die vorhandenen Erkenntnisse und Erfahrungen für eine Bewertung zur präventiven Beschneidung kleiner Kinder in Deutschland zusammenführt, scheint es bisher nicht zu geben. Das finde ich erstaunlich und aus meiner Sicht wäre das überfällig, auch für die angestrebte gesetzliche Regelung zur rituellen Beschneidung.
Die Beschneidung aus rituellen Gründen, nicht aus medizinischen Gründen, ist Gegenstand der laufenden Debatte in Deutschland. Hier scheinen sich Positionen von säkularen Teilen der Gesellschaft, die sich auf die Werte (!) und die Tradition (!) der Aufklärung berufen, und von religiös gebundenen Teilen der Gesellschaft, die die Beschneidung als unverzichtbaren Bestandteil ihrer religiösen Praxis sehen, unvereinbar gegenüberzustehen. Beide Seiten beanspruchen die „Wahrheit” für sich. Durch die Medien gehen Meinungsumfragen, nach denen die deutsche Bevölkerung sich mehr oder weniger gleich auf beide „Seiten” verteilt, vielleicht sogar mit einer leichten Mehrheit für die säkulare Position. Kein Wunder, dass die Debatte breit geführt wird, dass dabei alle möglichen Trittbrettfahrer, auch aus dem antisemitischen Spektrum, mitreden und dass es mehr und weniger kluge Meinungsäußerungen zu dem Thema gibt.
Erschreckend ist allerdings, wie schnell die Politik das Debattenfeuer austreten wollte. Da beklagt man sonst so wortreich den Verlust von Werten in der Gesellschaft und dass viele Menschen so gleichgültig und konsumorientiert seien, und wenn einmal eine ernste Wertedebatte geführt wird, hat man in der politischen Klasse Angst vor den Folgen. Man will derart überstürzt handeln, dass man eine gesetzliche Befriedung der Debatte sogar im Patientenrecht überlegt, so der Gesundheitsminister Bahr, als ob es hier um Patienten ginge, und als ob nicht das “Gesetz über die religiöse Kindererziehung” der angemessenere Ort für eine Regelung zur rituellen Beschneidung wäre.
Warum diese Eile? Dass jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland nicht nur möglich sein soll, sondern normaler Teil „unseres” Lebens, steht doch eigentlich nicht wirklich infrage. Was das bedeutet, muss aber diskussionsfähig sein. Ohne eine ausführliche Diskussion wird die bei diesem Grundrechtekonflikt zwischen der körperlichen Unversehrtheit des Kindes und der Religionsfreiheit der Eltern gebotene “praktische Konkordanz” vielleicht gar nicht gefunden werden. Jedenfalls wird sie dann nur wenig gesellschaftliche Akzeptanz erfahren, ein Teil der in der Debatte engagierten Bevölkerung wird sich mit einer zu schnell verabschiedeten gesetzlichen Regelung „unterlegen” fühlen und vielleicht der vielbeklagten Politikverdrossenheit wieder einen Schritt näher sein.
Von dem Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde soll die Formulierung stammen, dass das Recht nicht dafür sorgen könne, dass die Menschen „in der Wahrheit leben”, aber dafür, dass sie „in Frieden leben”. Ich weiß nicht, ob die Formulierung wirklich von ihm ist, sie scheint mir aber recht klug zu sein. Und mir scheint, in diesem Konflikt wird eine „Seite” gegen ihre innersten Überzeugungen, gegen ihre „Wahrheit”, zurückstecken müssen, um des gesellschaftlichen Friedens willen. Es zeichnet sich ab, dass das die säkulare Seite sein wird. Aber ist es dann damit getan, dass man eine „medizinisch fachgerechte” Beschneidung der Kinder straffrei stellt, oder gar explizit erlaubt? Oder müsste man nicht zumindest auch einen Prozess der Reflexion innerhalb der Religionsgemeinschaften anstoßen, der ein Überdenken der althergebrachten Riten befördert? Denn diese Riten beinhalten offenkundig ein magisches Denken, das symbolische Ausdrucksformen für den „Bund mit Gott” für bare Münze nimmt. Und noch dazu wird hier ein „Gebot Gottes” als Fundament des Glaubens hochgehalten, dem man doch auch andere „Gebote Gottes”, z.B. das Tötungsverbot, als höherwertig entgegenhalten könnte. „Du sollst nicht töten” – könnte das nicht auch aus der Sicht von Gläubigen das wahre Fundament einer aufgeklärten Religion sein und der beste Ausdruck des „Bundes mit Gott”? So viel Emotion für die Beschneidung, so wenig Emotion für Syrien, ist das so „gottgefällig”?
Ich denke, die Politik ist gut beraten, diese Debatte noch etwas laufen zu lassen. Das schafft die nötige Zeit, durch mehr Information über die Sache selbst leichter zu der erwähnten „praktischen Konkordanz” der konfligierenden Grundrechte zu kommen und es schlägt dem Engagement vieler Menschen in der Diskussion nicht so ignorant ein „Basta” vor den Kopf. Es ist schließlich eine Debatte, die uns alle angeht, ob wir religiös sind oder nicht, ob wir der politischen Klasse angehören oder nicht. Die politische Klasse sollte erkennen, dass diese Debatte etwas Positives ist.
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