Viele, wenn nicht alle medizinische Eingriffe sind mit einem Risiko behaftet. Man akzeptiert dieses Risiko, wenn der Nutzen überwiegt. Eine Herzoperation ist alles andere als risikofrei, aber wenn die Alternative der Tod ist, lässt man sich operieren. Mehr noch als in der Kuration geht es in der Prävention um ein Abwägen von Vor- und Nachteilen, denn hier werden nicht kranke, sondern gesunde Menschen „behandelt”.
Bei Präventionsmaßnahmen muss das Schadenspotential daher besonders kritisch betrachtet werden und die Nutzen-Risiko-Relation sollte klar positiv sein. Eine klassische Präventionsmaßnahme ist das Impfen. Beginnend mit der Pockenimpfung vor ca. 200 Jahren hat sich das Impfen als erfolgreiche Präventionsstrategie etabliert, die zahllose Menschenleben gerettet hat. Die Pocken, wie die Pest eine „Geißel der Menschheit”, sind seit 30 Jahren ausgerottet, bei Polio könnte das bald auch der Fall sein und die Masern könnten bei besseren Durchimpfungsraten zumindest aus Europa verschwinden.
Es gab allerdings mehrfach auch ernste Unglücksfälle im Zusammenhang mit dem Impfen, z.B. das Lübecker Impfunglück 1930, bei dem zahlreiche Kinder infolge einer Impfung gegen Tuberkulose mit verunreinigtem Impfstoff starben. Auch gewöhnliche Impfungen können mit „unerwünschten Arzneimittelreaktionen”, wie es im Fachjargon heißt, einhergehen. Diese werden in Deutschland beim Paul-Ehrlich-Institut registriert und bewertet – wenn sie gemeldet werden. Vor allem aufgrund der Tatsache, dass eine Impfung auch ein Schadenspotential hat, ist somit eine vernünftige Aufklärung über Nutzen und Risiko durch den Arzt notwendig und es ist auch das gute Recht jedes Menschen, im Anschluss daran eine Impfung abzulehnen. Es gibt es Deutschland keine Impfpflicht mehr (das Infektionsschutzgesetz sieht die Möglichkeit dazu in besonderen Notlagen zwar vor, dies war aber erfreulicherweise bisher nicht nötig).
Noch sorgfältiger muss die Abwägung zwischen Nutzen und Risiken bei der Impfung von Kindern ausfallen, weil Kinder nicht selbst darüber entscheiden können, ob sie geimpft werden wollen und stattdessen die Eltern für das Kind einwilligen oder ablehnen müssen. Eine Hilfestellung geben dabei die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut (STIKO), dort wird eine Nutzen-Risiko-Bewertung vorgenommen. Ernste und bleibende Schäden sind bei den von der STIKO empfohlenen Impfungen sehr selten, aber auch hier nicht unmöglich. Insofern ist es legitim, über Pro und Contra auch von sehr nützlichen und risikoarmen Impfungen zu sprechen und Ärzte sind gut beraten, offen für die Fragen und Unsicherheiten ihres Impfklientels zu sein, ganz abgesehen davon, dass so auch besser individuelle Kontraindikationen eingrenzbar sind.
Das ist die eine Seite. Die andere Seite sind irrationale Impfgegner, die mit völlig absurden Begründungen das Impfen an sich ablehnen. Da wird z.B. behauptet, es gäbe gar keine Viren, also könne man auch nicht gegen Viren impfen. Oder es wird behauptet, eine durchgemachte Masernerkrankung würde die Entwicklung des Kindes positiv beeinflussen, oder es werden abenteuerliche Behauptungen über Nebenwirkungen aufgestellt und weiterverbreitet, auch wenn sie längst eindeutig widerlegt sind. Hier geht es nicht um das Abwägen von Nutzen und Risiken, sondern darum, den wissenschaftlichen Sachstand nicht zur Kenntnis zu nehmen. In diesen Fällen kann man von „Denialismus” sprechen. Den Begriff haben die amerikanischen scienceblogs-Kollegen Chris und Mark Hoofnagle vor einigen Jahren im Zusammenhang mit dem Leugnen des anthropogenen Klimawandelns populär gemacht, Pascal Diethelm und Martin McKee haben den Begriff dann auf das Leugnen der wissenschaftlichen Evidenz zu den gesundheitlichen Folgen des Tabakkonsums übertragen – und beim Impfen kann man dieses Phänomen ebenfalls beobachten. Impf-Denialismus ist übrigens kein Ausdruck mangelnder Bildung: er ist gerade im gut gebildeten, alternativ angehauchten Milieu verbreitet und geht nicht selten mit einer Vorliebe für Homöopathie und andere „sanfte” Heilmethoden einher. In Bayern findet man strikte Impfgegner beispielsweise deutlich häufiger im wohlhabenden Südwesten als im Rest des weißblauen Landes.
Als Kernelemente des Denialismus sehen die Hoofnagles bzw. Diethelm/McKee folgende Aspekte:
- Identification of conspiracies/Verschwörungstheorien: Man vermutet hinter dem wissenschaftlichen Konsens eine Verschwörung, z.B. seitens der Pharmaindustrie, die nur ihre Impfstoffe verkaufen will.
- Fake Experts/Scheinexperten: Man beruft sich auf vorgebliche Fachleute, die die eigene Meinung stützen, aber keine wirklichen Experten sind, Stichwort Dr. med. Gerhard Buchwald.
- Selectivity/Selektivität: Man zitiert nur ausgewählte Studien oder Fachleute, die die eigene Meinung bestätigen.
- Impossible expectations/Überforderung: Man verlangt von der Wissenschaft ein Maß an Sicherheit, das sie nicht einlösen kann, z.B. dass Impfungen erst eingeführt werden, wenn jegliche Schäden definitiv ausgeschlossen sind.
- Misrepresentation and logical fallacies/Trugschlüsse: Man arbeitet mit unzulässigen Analogien und logischen Sprüngen, z.B. dass Impfungen generell abzulehnen seien, weil es schon impfbedingte Todesfälle gegeben hat.
Überschneidungen mit dem gerade nebenan bei Florian Freistetter diskutierten Thema „Pseudowissenschaften” sind unübersehbar. Und manche Menschen schaffen es auch, bei einem Thema tapfer gegen Denialismus zu streiten und bei einem anderen selbst denialistisch zu argumentieren, siehe die Diskussion um Beda Stadler.
Man wird unschwer über die genannnten Beispiele hinaus weitere typische Argumentationsmuster des Denialismus beim Impfen finden. Wer schöne Beispiele (idealerweise mit Quellenangabe) hat, ist herzlich eingeladen, hier ein paar zu dokumentieren.
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