Aus der forensischen Psychologie ist seit langem bekannt, dass die Aussagen von Zeugen, auch wenn sie sich ehrlich bemühen, die Wahrheit zu sagen, nicht immer glaubwürdig sind. Berühmt geworden – und in verschiedenen Variationen wiederholt – ist das Experiment des Rechtswissenschaftlers Franz von Liszt aus dem Jahr 1901, der in einer Vorlesung einen Studenten mit einer Spielzeugpistole auf einen anderen Studenten schießen ließ. Danach wurden die Anwesenden zum Tathergang befragt und berichteten eine Vielfalt von dazuphantasierten Ereignissen. Witzigerweise kann dieses Dazuphantasieren sogar in Lehrbüchern geschehen: Vor einiger Zeit berichtete Reto U. Schneider in NZZ Folio, dass 1955 in einem Lehrbuch über forensische Psychologie aus dem Revolverangriff eine Dolchattacke geworden sei. Umgekehrt werden in bestimmten Situationen selbst obskure Vorgänge nicht bewusst wahrgenommen, z.B. Menschen in Gorillakostümen, die durchs Bild laufen. Hier sprechen Psychologen von der „Unaufmerksamkeitsblindheit“. Unser Gedächtnis bildet offensichtlich Ereignisse nicht wie ein Fotoapparat ab, so dass sie in jeder Hinsicht objektiv wieder abrufbar wären. Die Gedächtnisbildung wie auch der Abruf von Gedächtnisinhalten sind komplexere psychologische Vorgänge. Ein paar interessante Untersuchungen zur Glaubwürdigkeit von Zeugen finden sich auch in dieser Publikation des Rechtswissenschaftlers Frank Fechner von der TU Ilmenau.
Am letzten Mittwoch war ich bei einer Sachverständigenanhörung zur geplanten Novellierung des Nichtraucherschutzrechts im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Im Mittelpunkt dabei standen die Ausführungen des Deutschen Krebsforschungszentrums und der Ärztekammer zu den gesundheitlichen Aspekten des Themas einerseits, die Befürchtungen der Gastronomie und der Brauchtumsverbände hinsichtlich negativer Auswirkungen eines strengeren Nichtraucherschutzes andererseits, des Weiteren die Sicht der kommunalen Spitzenverbände zu ordnungsrechtlichen Aspekten. Als ich danach im Internet mal geschaut habe, welche Resonanz die Anhörung in den Medien hat, habe ich auch zwei Darstellungen zu meinen Antworten auf die Fragen der Abgeordneten gefunden, die mich spontan an die oben geschilderten Experimente erinnert haben. Bei WELT online werde ich wie folgt zitiert: „Joseph Kuhn vom Bayerischen Landesgesundheitsamt bestätigte, es habe eine positive Entwicklung bei Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen gegeben seit dem Inkrafttreten des umfassenden Rauchverbots in Bayern 2010.“ Um das bestätigen zu können, müsste aber eine empirische Evaluation dieser Entwicklung durchgeführt worden sein. Die gibt es für das Land Bayern nicht und aus methodischen Gründen wäre wohl eine bundesweite Evaluation auch ohnehin besser. Tatsächlich gesagt habe ich, dass man hier kurzfristige und langfristige Effekte unterscheiden müsse, dass es bei Atemwegserkrankungen und Herzkreislauferkrankungen der internationalen Studienlage zufolge solche Effekte gebe und diese Studienlage wohl auch auf Bayern zutreffe. Die WELT hat das möglicherweise zusammengezogen mit einer anderen Äußerung von mir, bei der ich darauf abgehoben habe, dass die Passivrauchbelastung von Kindern in Bayern nicht, wie oft befürchtet, in den privaten Bereich verdrängt wurde – dazu haben wir in der Tat empirische Daten.
Noch etwas mehr an Liszts Experiment hat mich folgender Kommentar auf dem „e-rauchen-forum“ erinnert: „…denn nach der Frage eines Abgeordneten nach der Einstufung der Shisha, folgte von dem Gesundheitsexperten Dr. Kuhn folgende Antwort: ‚Die Shisha ist als schädlich einzuordnen, genauso wie die E-Zigarette, mehr gibt es darüber nicht zu sagen‘“. Je nachdem, was in der Shisha und in der E-Zigarette drin ist, ist dem zwar zuzustimmen, aber danach, ob Shishas schädlich sind und wie das Schadenspotential im Vergleich zu E-Zigaretten einzuordnen ist, wurde ich weder gefragt noch habe ich dazu auch nur ein Wort gesagt. Vermutlich hat mich der „Zeuge“ hier einfach mit einem anderen Sachverständigen verwechselt. Wenn ich mich recht erinnere (!), hatte sich ein ebenfalls als Sachverständiger geladener Pulmonologe dazu geäußert.
Vermutlich wird das Ausschussprotokoll noch online gestellt. Sofern der Protokollant ein verlässlicher Zeuge ist, wird man dann nachlesen können, wer was gesagt hat.
Kleiner Nachtrag: Nicht nur Ungesprochenes wurde gehört, auch Nichtvorhandenes wurde gesehen. Auf der Raucherfreundeseite “betrifftuns” steht zu lesen: “Besonders erwähnt wurde von einer Teilnehmerin, dass sie einen regen Gesprächsaustausch mit Herrn Prof. Dr. med. Romano Grieshaber gehabt hatte, der unmittelbar neben ihr saß. Schräg vor ihr konnte sie Johannes Spatz (…) erkennen.” Herr Grieshaber war in der Tat anwesend (als Gast, nicht als Sachverständiger), aber Herr Spatz war in keiner irdischen Erscheinungsform da.
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