In gewisser Weise war die ganze DDR ein Menschenversuch: der Versuch, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen und den dazu passenden Menschen zu erziehen. Die Diskussion darüber, ob das an sich ein böses Vorhaben war, oder gut gemeint, aber gründlich misslungen, dauert bis heute an. Und sicher ist auch unsere gegenwärtige Gesellschaft ein Großversuch am Menschen, nämlich ein Test, wie viel Kapitalismus der Mensch aushält. Der Ausgang dieses Experiments ist noch offen.
Aber in der DDR gab es auch andere Menschenversuche. Wie verschiedene Medien vor ein paar Wochen berichteten, ließen westdeutsche Pharmafirmen in den 1980er Jahren unter dubiosen Bedingungen Medikamente in der DDR testen. Wie es scheint, wurden die Probanden nicht so aufgeklärt, wie es die Deklaration des Weltärztebundes von Helsinki aus dem Jahr 1964 vorsieht.
Das wäre zwar ein Verstoß gegen die ärztliche Ethik, aber keine Besonderheit der DDR, so etwas gab es auch im Westen und ich möchte gar nicht wissen, wie es um die Aufklärung von Probanden bei Arzneimitteltests in der Dritten Welt bestellt ist. Was den Medikamententests in der DDR allerdings eine besondere Note gibt, ist die Tatsache, dass sie mit der Devisenbeschaffung der Abteilung Kommerzielle Koordinierung des DDR-Außenhandelsministeriums verknüpft waren. Die DDR hat ihre Bürger sozusagen gegen Geld an die westdeutsche Pharmaindustrie verkauft.
Diese Vorgänge sind zurzeit Gegenstand parlamentarischer Anfragen im Land Brandenburg. Die Opposition dort möchte wissen, was damals war, die Regierung sagt, dass sie nichts weiß und eigentlich auch nicht zuständig ist. Die Opposition will sich damit nicht abspeisen lassen und legt die nächste Anfrage nach und so kann das sicher noch eine Weile weitergehen.
Die Frage, die sich mir stellt, ist, ob das Thema sich überhaupt durch parlamentarische Anfragen klären lässt. Eine Landesregierung ist schließlich keine medizinhistorische Forschungsstätte. Die historische Aufarbeitung des Themas scheint die Brandenburger Landesregierung aber auch nicht übermäßig zu interessieren: In der Antwort auf eine entsprechende Frage in der Kleinen Anfrage Nr. 2589 (Drucksache 5/6772) heißt es lapidar: „Der Landesregierung liegen keine Informationen darüber vor, ob an Brandenburger Hochschulen zum Thema ‚Medikamententests westlicher Pharmafirmen zu Zeiten der SED-Diktatur‘ geforscht wird.“ Punkt. Nun gut, dafür wissen wir, was an der Viadrina in Frankfurt/Oder geforscht wird. Vielleicht würde der Kozyrev-Spiegel der Landesregierung ja zu einigen hellsichtigen Erkenntnissen verhelfen.
Traditioneller wäre der Weg über die historischen Dokumente. Eine medizinhistorisch tätige Kollegin hat mir z.B. ein Schreiben der Hoechst AG vom 27.1.1987 an das Gesundheitsministerium der DDR zukommen lassen und Studienprotokolle aus dem Jahr 1989. Darin wird zur Studie HOE 498/2/DDR/201/HI von 8 Todesfällen berichtet und zur Studie BL 191/2/MN/201/ST, einer Trentalstudie (Trental ist ein durchblutungsförderndes Mittel), von 12 Todesfällen in der Trentalgruppe und von 5 Todesfällen in der Placebogruppe. Man erfährt außerdem, dass pro Proband (für eine Hoechst-Studie zum ACE-Hemmer Ramipril) 3.800 DM gezahlt wurden.
Schwer zu finden, sagt die Kollegin, seien diese Dokumente nicht. Die zitierten sind aus dem Bundesarchiv und tragen das Archivkennzeichen DQ 105-66. Für historisch arbeitende Arzneimittelforscher könnten da also ganz interessante Sachen zu entdecken sein, und für manche Leute vielleicht auch die eine oder andere böse Überraschung.
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Nachtrag 9.2.2013: Auf einer MDR-Internetseite aus dem Jahr 2010 finden sich ebenfalls einige Dokumente zu diesen Medikamententests, u.a. auch das Schreiben der Hoechst AG und der Protokollauszug zur Trentalstudie.
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