Im Moment wird allerorten, auch hier auf scienceblogs, über eine Impfpflicht für die Masernimpfung diskutiert. Es klingt einleuchtend: Die Masern verlaufen zwar meist harmlos, aber es gibt doch einen erheblichen Anteil ernster Verläufe, auch Todesfälle, und es gibt eine nach Jahren auftretende, ebenfalls tödlich endende Spätfolge, die subakute sklerotisierende Panezephalitis (SSPE). Die Masern könnten eliminiert werden, weil ähnlich wie bei den Pocken der Mensch der einzige Wirt ist. Amerika zeigt, dass es möglich ist, aber in Europa gelingt es einfach nicht. Die Gefährlichkeit der Masern, auch das Gefährdungspotential für Dritte, wird in der Bevölkerung unterschätzt. Allein in Deutschland sind 2013 schon mehr als 1000 Masernfälle gemeldet worden. Dazu passend hat eine Auswertung von Abrechnungsdaten der niedergelassenen Ärzte im „Versorgungsatlas“ des Zentralinstituts der Kassenärztlichen Vereinigung jetzt auch noch auf gravierende Impflücken bei Kleinkindern unter 2 Jahren hingewiesen. Ist angesichts dieser Situation die Impfpflicht nicht überfällig?
Man könnte sich natürlich fragen, warum ausgerechnet der FDP-Minister Bahr die Impfpflicht ins Gespräch gebracht hat – der gleiche Minister, der Anfang des Jahres einen Entwurf eines Präventionsförderungsgesetzes vorgelegt hat, das ganz am liberalen Glaubensbekenntnis der Eigenverantwortung ausgerichtet war. Aber das wäre wieder einmal eine eigene und andere Geschichte.
In Bayern wird bei den Schuleingangsuntersuchungen auch danach gefragt, ob die Eltern alle Impfungen für ihre Kinder ablehnen. Die Ablehnungsraten sind regional sehr unterschiedlich, mit einigen auffälligen Übereinstimmungen zu den im Versorgungsatlas der Ärzte dokumentierten regionalen Impfsenken. Aber: Bayernweit haben bei der Schuleingangsuntersuchung 2011/2012 nur 1,5 % der Eltern alle Impfungen für ihre Kinder abgelehnt. Heißt das nicht, dass Impfraten über 95 % eigentlich auch ohne Impfpflicht zu erreichen sein sollten?
Kann sein, dass irgendwann die Impfpflicht das letzte Mittel ist. Aber man sollte vorher noch einmal darüber nachdenken, ob man wirklich genug getan hat, um das Thema Masern und Masernimpfung ins Bewusstsein der Leute zu rücken. Wo waren denn die großen Kampagnen in den letzten Jahren? Wer hat bei den Eltern ein halbes Jahr nach der Geburt der Kinder an die Tür geklopft? Wer in den Kitas Impfelternabende veranstaltet? Wer hat bei den Hebammen für das Thema geworben? Dabei könnte man auch einmal darüber nachdenken, was aus dem öffentlichen Gesundheitsdienst geworden ist, warum er bei alldem kaum mehr eine Rolle spielt. Es gibt ihn ja fast nicht mehr. Mir kommt es so vor, als sei der Ruf nach der Impfpflicht genau die Folge des überzogenen Eigenverantwortungsglaubens, der den Abbau präventiver Strukturen, z.B. im öffentlichen Gesundheitsdienst, legitimiert und der individuellen Moral zuviel an gesellschaftlicher Verantwortung aufgebürdet hat.
Versagt die Eigenverantwortung, kommt der Zwang. Hegel hätte das wohl als Dialektik liberaler Präventionspolitik gesehen.
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