Vor einem Jahr hat der ZEIT-Journalist Harro Albrecht einen Artikel „Lob der Erfahrung“ veröffentlicht, in dem er der evidenzbasierten Medizin den Wert der persönlichen Erfahrung gegenüberstellt. Der Regensburger Sozialmedizinprofessor David Klemperer hatte damals in einem Leserbrief für das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin diese Gegenüberstellung kritisiert. Zu Recht. Die evidenzbasierte Medizin ignoriert ja nicht die klinische Erfahrung, sie stellt ihr allerdings im Bewusstsein der Irrtumsanfälligkeit menschlicher Erfahrung die wissenschaftliche Studienlage zur Seite.
Jetzt ist mir in einer Sammelpublikation „ZEIT Spezial Medizin“ der Artikel noch einmal unter die Augen gekommen. Dabei bin ich über einen Passus gestolpert, den ich beim ersten Mal überlesen hatte. Harro Albrecht, der in seinem Artikel selbst auch Irrtümer bei erfahrungsgeleiteten Entscheidungen anspricht, schreibt:
„Berühmt ist Kahnemans ‚Linda-Problem‘. Er stellte Versuchspersonen eine Frage: Linda, 31 Jahre alt, Studium der Philosophie, kämpft für soziale Gerechtigkeit und nimmt an Anti-Atomkraft-Demonstrationen teil. Was ist wahrscheinlicher? Dass Linda in einer Bank arbeitet – oder dass Linda in einer Bank arbeitet und zugleich aktive Feministin ist? 90 Prozent tippten auf die zweite Variante. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit für eine feministische Bankangestellte natürlich kleiner als für eine einfache Bankangestellte. (…) Trugschlüsse dieser Art lauern überall (…).“
Stimmt genau. Harro Albrecht produziert hier selbst einen Trugschluss, sei es, weil er die Logik in Kahnemans „Linda-Problem“ nicht verstanden hat, sei es, weil er unsauber formuliert. Ob es unter den „einfachen“ oder unter den „feministischen“ Bankangestellten häufiger solche mit Philosophiestudium und Anti-AKW-Demoteilnahme gibt, ist nämlich eine empirische Frage. Kahnemans Frage führt dagegen bei einem logischen Sachverhalt auf’s Glatteis. Man neigt spontan dazu, sie nach vermuteter Milieugemeinsamkeit zu beantworten und ihre logische Binnenstruktur zu übersehen: Es ist wahrscheinlicher, in einer Bank zu arbeiten als in einer Bank zu arbeiten und Feministin zu sein. Ersteres schließt Letzteres mit ein, die Feministinnen sind eine Teilmenge aller Bankangestellten. Anders, wenn man „einfache“ und „feministische“ Angestellte vergleicht (einmal ganz abgesehen davon, dass man ohnehin nicht versteht, warum nichtfeministische Angestellte „einfach“ sein sollen). Korrekt wäre seine Erklärung gewesen, hätte er geschrieben: „Dabei ist die Wahrscheinlichkeit für eine feministische Bankangestellte natürlich kleiner als einfach nur für eine Bankangestellte.“
Gegenüberstellungen haben es eben manchmal in sich, die von klinischer Erfahrung und Evidenzbasierung ebenso wie die von einfachen und feministischen Angestellten.
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