Die Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft ist nicht immer einfach, historisch nicht immer feststehend und auch nicht immer nur durch das Interesse an der Wahrung wissenschaftlicher Standards motiviert. Beispiele dafür lassen sich unschwer finden, vermutlich in allen Wissensgebieten. Vielleicht sind die Pseudowissenschaften ja so etwas wie der Schatten, den das Licht der Wissenschaft wirft.
Gerade habe ich das Buch „Welteis“ der Historikerin Christina Wessely gelesen. Es geht darin um die Geschichte einer Lehre, die meinte, die Himmelskörper einschließlich der Milchstraße bestünden im Wesentlichen aus Eis und das Welteis sei für viele Vorgänge auf der Erde verantwortlich, vom Hagel bis zu den Naturkatastrophen. Erfinder der Welteislehre war der Ingenieur Hanns Hörbiger (1860 – 1931). Als Entwickler von Ventilen war er – technisch und wirtschaftlich – sehr erfolgreich, als Welteisdenker ein ebenso erfolgreicher Pseudowissenschaftler. Seine Lehre fand in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts viele Anhänger, einschließlich des dem Obskuren und Esoterischen aufgeschlossenen Heinrich Himmler.
Interessant an der Welteis-Geschichte ist, dass diese Lehre, so Christina Wessely, auch eine Geschichte des Kampfes von Technikern und Ingenieuren um ihren gesellschaftlichen Status war, den sie angesichts ihrer Verdienste um den technischen Fortschritt im Vergleich zur Anerkennung der akademischen Naturwissenschaften nicht ausreichend gewürdigt sahen. Die Welteislehre, obwohl maßgeblich von Technikern und Ingenieuren getragen, brachte dezidiert technische Überlegungen und Intuition gegen die mathematische und physikalische Hochschulwissenschaft in Stellung. „Bilddenker“ versus „Reinmathematiker“ und „Grüntischphysiker“, zitiert Christina Wessely Schlagworte aus der damaligen Debatte. Später hat Hanns Hörbiger dann den Schulterschluss mit der etablierten Wissenschaft gesucht, aber nicht erreicht. Die Welteislehre hat nach dem zweiten Weltkrieg keine bedeutsame Rolle mehr gespielt.
Dieser merkwürdige Dreiklang von technischer Bastelei, Vertrauen auf Intuition und Opposition gegen die etablierte Wissenschaft scheint in pseudowissenschaftlichen Geschichten immer wieder aufzutauchen. Gerade haben wir hier auf Gesundheits-Check über Hahnemann diskutiert. Auch bei Hahnemann ist Intuition und das Denken in großen Würfen verknüpft mit ausgefeilten technischen Prozeduren – hier dem Verdünnen und Verschütteln der Wirkstoffe, Prozeduren, die heute wissenschaftlich gesehen nur noch rituellen Charakter haben.
Ein weiteres Beispiel ist Wilhelm Reich (1897 – 1957), ein Freudomarxist, der von der Existenz der geheimnisvollen „Orgonenergie“ überzeugt war und dazu biologische und physikalische Experimente durchführte. Er isolierte sich durch seine „Forschungen“ nach und nach nicht nur von der – damals noch kaum entwickelten – akademischen Psychologie (dieses Schicksal teilte er mit der Freudschen Psychoanalyse), sondern auch von der gesamten Naturwissenschaft.
War Hahnemann mit seiner Mischung aus Technik und Intuition immerhin noch auf der Höhe seiner Zeit – erst seine Nachfolger sind durch das starre Festhalten an seinen Lehren und Prozeduren aus der Zeit gefallen, waren Hörbiger und Reich schon zu Lebzeiten wissenschaftlich unzeitgemäß. Dafür hatte Reich, hier wiederum Hahnemann ähnlich, seine Lehre in eine Lücke der damaligen „Seelenheilkunde“ platziert – ihrer Körpervergessenheit.
Unorthodoxe Ideen sind nicht immer von Anfang an ein Schattenwurf der Wissenschaft, sondern manchmal auch Indikatoren für dunkle Stellen der Wissenschaft selbst und werden, je nachdem, wie sie mit Kritik umgehen und was sich wissenschaftlich tatsächlich bewährt, Teil der Weiterentwicklung der Wissenschaft oder „fallen aus der Zeit“, werden also vergessen oder existieren als Untote des Wissenschaftsbetriebs weiter.
Zum Weiterlesen:
Christina Wessely: Welteis. Eine wahre Geschichte. Matthes & Seitz, Berlin 2013.
Dirk Rupnow, Veronika Lipphardt, Jens Thiel, Christina Wessely (Hrsg.): Pseudowissenschaft. Suhrkamp, Frankfurt 2008.
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