Letzte Woche fand in Halle die 15. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin statt. „Prävention zwischen Evidenz und Eminenz“ war das Rahmenthema. Ein wichtiges Thema, weil wie im kurativen Bereich auch viele präventive Maßnahmen keine oder keine gute Evidenzbasis haben. Ein methodischer Streitpunkt dabei ist die Anwendbarkeit der Verfahren der Evidenzbasierten Medizin auf die Prävention, insbesondere was randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) angeht. RCTs sind – wenn es um die Wirkungsforschung geht – so etwas wie der Goldstandard der Evidenzbasierten Medizin. Manche Fachleute bezweifeln allerdings, dass sich RCTs auf komplexe Interventionen der Prävention anwenden lassen, z.B. auf gemeindeorientierte Programme, bei denen es zu vielfältigen und nicht ohne Weiteres vorhersehbaren Wechselwirkungen zwischen den Beteiligten und zwischen Interventionen und Effekten kommt.
Am Samstag gab es dazu bei der EBM-Tagung im Anschluss an einen Vortrag der australischen Public Health-Expertin Elizabeth Waters ein Podiumsgespräch, bei dem die Diskussion genau auf diesen Punkt kam. Leider etwas unterkomplex mit einer „ja aber“-Endlosschleife als Ergebnis.
Das ist schade, weil die Sache mit der Evaluierbarkeit komplexer Interventionen wirklich spannend ist und es dazu international intensive Methodendiskussionen gibt.
Die Leitplanken der Diskussion sind dabei vergleichsweise einfach zu formulieren: Einerseits möchte niemand wirkungslose Präventionsmaßnahmen haben, denn wie in der kurativen Medizin hat auch jede Präventionsmaßnahme ihren Preis. Selbst wenn sie gesundheitlich nicht schaden sollte, was ja keineswegs selbstverständlich ist, kostet sie zumindest unnötig die Lebenszeit der Leute, die davon betroffen sind. Prävention ist nicht „an sich“ gut. Andererseits ist unstrittig, dass de facto nicht jedes Präventionsprogramm mit einem RCT zu evaluieren ist, sei es, weil es rechtlich nicht möglich ist (z.B. wenn gesetzliche Vorschriften für alle gelten müssen und nicht randomisiert zugeteilt werden können), sei es, weil es ethisch nicht vertretbar ist oder aus pragmatischen Gründen, z.B. zu kleinen Stichprobengrößen, einfach nicht geht. So weit, so gut.
Aber was ist mit dem Argument, die Wirkung mancher Interventionen ließe sich nicht mit einem RCT untersuchen, weil es um „komplexe“ Zusammenhänge gehe? Dieses Argument wird nicht nur von manchen Fachleuten in der Prävention vorgebracht, auch der Tabakfreund Romano Grieshaber argumentiert so, um die epidemiologischen Methoden zur Untersuchung der gesundheitlichen Folgen des Passivrauchens in Zweifel zu ziehen, ebenso scheint der Alternativmedizinmethodiker Harald Walach in diese Richtung zu denken, um die Homöopathie zu verteidigen. Man müsste, so heißt es, um Wirkungen bei komplexen Systemen mit einem RCT untersuchen zu können, die Komplexität der Dinge so sehr reduzieren, dass man eigentlich etwas ganz anderes untersucht als es beabsichtigt war. Etwa so, wie wenn man aus methodischen Gründen das menschliche Handeln auf behavioristische Reiz-Reaktionsketten reduziert, um es experimentell untersuchen zu können und auf diese Weise die „Begründetheit“ menschlichen Handelns, also die Möglichkeit, sich über Gründe bewusst mit der Umgebung auseinanderzusetzen, schon methodisch ausschaltet (wen diese besondere Methodendebatte interessiert, dem sei als Langzeitlektüre Klaus Holzkamps „Grundlegung der Psychologie“ empfohlen, hier reicht es, es einfach als Analogie zu nehmen).
Nun könnte man aus systemtheoretischer Sicht sagen, die EBM-Kritiker haben völlig recht, komplexe Systeme im Sinne der Systemtheorie sind nicht steuerbar, sie sind nur irritierbar. Es gibt keine deterministischen Ursache-Wirkungs-Ketten, über die durch ein bestimmtes Eingangssignal ein bestimmtes Ergebnis erzwungen werden kann. Die Rekursivität der Informationsverarbeitung in komplexen Systemen, die nicht ausschaltbaren Interaktionen mit der ebenso komplexen Umgebung und andere Systemeigenschaften lassen das nicht zu. Ich bin kein Systemtheoretiker und will mich hier nicht mit unzureichender Kompetenz verausgaben. Aber die oben angesprochene Analogie vor Augen, dass Menschen immer begründet handeln können (auch wenn sie es oft nicht tun), also nicht per se deterministischen Verhaltensgesetzen folgen, kann ich dem Argument, dass komplexe Systeme nicht einfach steuerbar sind, im Prinzip durchaus zustimmen. Kein Ursache-Wirkungszusammenhang, also kein RCT.
Wolfgang Bödeker, ein scharfsinniger Verteidiger der Evidenzbasierten Medizin, hat daraus die Schlussfolgerung gezogen, wenn man in der Prävention von dieser Prämisse ausgehe, dürfte man streng genommen komplexe Interventionen gar nicht durchführen, weil man dann ja auch nicht wissen könne, was dabei herauskommt. Touché.
Aber geht es hier eigentlich wirklich immer um „Komplexität“ im Sinne der Systemtheorie? Gibt es nicht beim Passivrauchen kausale Pfade, die zwar von vielen Faktoren beeinflusst werden, aber dennoch kausale Pfade bleiben? Und auch dort, wo man es, z.B. bei gemeindeorientierten Interventionen, wohl wirklich mit komplexen Systemen zu tun hat (weil z.B. „Wirkungen“ von Handlungen abhängen, also zumindest im Prinzip nicht determiniert, sondern begründet sind): Gibt es da nicht auch kausalanaloge Pfade, etwa kalkulierbare Gewohnheiten, erwartbare Verhaltensweisen? Und lassen sich dann eben doch auch komplexe Systeme „ausrechnen“, und wenn es nur unter ceteris paribus-Bedingungen ist, also so lange, wie die Systeme ihre Komplexität nicht ausleben, sondern aufgrund irgendwelcher Festgelegtheiten berechenbar bleiben? Und weiter: Was bedeutet das dann eigentlich für das Ziel vieler präventiver Maßnahmen, nämlich, dass die Menschen informierte Entscheidungen treffen, selbstbestimmt handeln und (gemeinsam) die Verfügung über die Bedingungen ihrer Gesundheit gewinnen? So formuliert es z.B. die berühmte Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation. Wie verträgt sich die angestrebte Selbstbestimmung mit der Berechenbarkeit des Verhaltens?
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