Die Homöopathie ist ein interessantes Phänomen. Sie postuliert Heilkräfte, die man nirgendwo sonst beobachten kann und die leider auch nicht bei anderen Problemen helfen. Homöopathische Prinzipien helfen nicht bei der Autoreparatur und – zumindest den meisten Leuten – auch nicht bei der Steuererklärung. Trotzdem sind viele Menschen davon überzeugt, dass die Homöopathie hilft, dass sie das persönlich schon erfahren haben und daher zumindest „irgendetwas“ dran sein muss oder dran sein kann. Wie das zu erklären ist, darüber wurde schon viel geschrieben, 10 wichtige Punkte sind hier noch einmal zusammengefasst:
Die Kunst des Zuhörens
Die moderne Medizin hat etwas verlernt, was auch Hausärzte früher gut konnten, manche können es noch heute: Zuhören. Es tut allen Menschen gut, wenn man ihre Nöte und Sorgen ernst nimmt, ihnen das Gefühl gibt, damit nicht allein zu sein. Das hilft bei der Bewältigung von Krankheiten, nicht nur bei psychosomatischen Beschwerden, die einen nicht geringen Anteil der hausärztlichen Fälle ausmachen. In der Homöopathie hat man diese Kunst bewahrt – bei angemessener Honorierung. Davon kann die Medizin nur lernen. Vom Zuhören und von der Honorierung.
Die Macht des Schamanismus
So rational und aufgeklärt wir sind: In uns lebt wohl ein archaisches Erbe fort, wir neigen zum Glauben an höhere Mächte, die man beschwören und günstig stimmen kann. Das Mittel dazu sind Rituale. Die Religionen führen das seit Jahrtausenden vor. Auch Ärzte, die Nachfahren der alten Schamanen, profitieren davon. Der weiße Kittel, das Stethoskop, das Wartezimmer – vieles davon hat etwas Rituelles. In der Homöopathie erfüllen das Verdünnen, das Schütteln, das Aufschlagen usw. diese Funktion. Seit 200 Jahren Homöopathie gibt es die gleichen Herstellungsvorschriften, es sind rituelle Handlungen, die die höheren Kräfte in die Kügelchen bannen. Ein Talisman zum Schlucken.
Die Kraft des Unerklärlichen
Zwar ist die Homöopathie im strengen Wortsinn keine esoterische Lehre, sie ist keine Geheimlehre. Aber das Unerklärliche ist Teil ihrer Wirkmacht. Wenn Skeptiker kritisieren, man könne sich doch gar nicht vorstellen, was die geistartigen Kräfte Hahnemanns sein sollen und wie sie den Weg von der Ursubstanz durch die Verdünnung auf den Zucker und dann in den Körper oder wohin auch immer überstehen sollen und woher das Wasser wissen soll, welche Kräfte es potenzieren muss und welche nicht, dann sprechen sie mit dem Ominösen eigentlich das Noumenon der Homöopathie an: Dass man es nicht verstehen kann, erhöht die Kraft der Kügelchen. Sie bergen ein Geheimnis. Moderne Geister rufen daher auch gerne die Quantenphysik zu Hilfe – weil man die als normaler Mensch auch nicht so richtig versteht. Und gerät man damit zufälligerweise einmal an einen Quantenphysiker, kann immer noch darauf hingewiesen werden, dass auch die moderne Wissenschaft nicht alles erklären kann und es daher auch möglich ist, dass es Hahnemans Geister gibt. Klingt doch logisch, oder?
Salutogenese
Von Aaron Antonovsky, einem israelisch-kanadischen Stressforscher, stammt der Begriff der „Salutogenese“. Er hat damit das Phänomen bezeichnet, dass Menschen eher gesund bleiben, wenn sie ihre Situation in einen größeren Sinnzusammenhang einbetten können und sich als handlungsfähig wahrnehmen. Die Homöopathie bedient dieses Gefühl erstklassig. Oft weiß man nicht so recht, warum man krank ist oder sich unwohl fühlt, da ist es gut, wenn man immerhin etwas tun kann: Kügelchen einnehmen. Zu wissen, dass man nicht hilflos ist, hilft. Hier liegt vermutlich auch eine der Wurzeln des „Placeboeffekts“, der als Begriff ja mehr verdeckt als erhellt, weil er so tut, als gäbe es eine Wirkung von Nichts. Normale Medikamente profitieren übrigens genauso von diesen Erwartungs- und Handlungsfähigkeitseffekten. Auch Aspirin hilft nicht nur, indem es die Bildung von Prostaglandinen hemmt, wir sind eben biopsychosoziale Wesen.
Nicht wissen, was wäre wenn
Die Homöopathie lebt davon, dass Menschen davon berichten, wie die Kügelchen ihnen geholfen haben. Sie hatten Beschwerden, haben die Kügelchen genommen und es ging ihnen wirklich oder ihrem Empfinden nach besser. Post hoc ergo propter hoc – weil die Linderung auf die Einnahme der Kügelchen folgte, muss sie dadurch verursacht worden sein. Ein klassischer Fehlschluss. Dieser Fehlschluss wird im subjektiven Erleben dadurch begünstigt, dass man als Erfahrung nur das hat, was nach den Kügelchen geschehen ist, nicht das, was ohne sie geschehen wäre. Die eigene Erfahrung ist ungeheuer überzeugend. Aber leider nicht immer der Weg zur Wahrheit. Der randomisierte kontrollierte Versuch, das RCT, ist der subjektiven Erfahrung überlegen.
Glauben, was man für richtig hält
Klingt tautologisch. Erklärt aber viel. Es gibt inzwischen viele sozial- und experimentalpsychologische Studien dazu, dass wir Informationen lieber aufnehmen, wenn sie zu unserem Weltbild passen. Ob es um Politik, Fußball oder die Homöopathie geht: Wir sind im Alltag keine Popperianer, die danach streben, ihre Überzeugungen zu falsifizieren, sondern Pragmatiker, die ihre Überzeugungen so lange beibehalten wollen, wie es geht. Von gut gepflegten Überzeugungen wird man selten enttäuscht. Das ist auch bei der Homöopathie so. Daraus resultiert eine selektive Wahrnehmung, was Erfolge und Misserfolge der weißen Kügelchen und ihrer Konkurrenten aus den „Schulmedizin“ angeht. Wird es nach den Kügelchen erst mal schlechter: Erstverschlimmerung. Wurde es gleich besser: Wenn das nicht überzeugt! Wo man doch gar nicht so recht an die Kügelchen geglaubt hat. Nur ein bisschen mehr als an die Schulmedizin vielleicht. Wenn es danach nicht gleich besser wurde: klar, die „Chemie“ hilft eben nichts. Die haben die Pharmafirmen nur gemacht, um Geld zu verdienen. Homöopathische Mittel haben dagegen nichts mit der Pharmaindustrie zu tun. Sie kommen aus dem Nichts. Der confirmation bias beherrscht unser Leben. Das ist auch nicht zu ändern, dahinter steht lebenspraktische Klugheit. Man kann nicht ständig alles auf den Prüfstand stellen. In der Wissenschaft ist das oft gar nicht so viel anders, aber wenn dort etwas auf den Prüfstand kommt, hat sie immerhin gute Möglichkeiten, mit dem confirmation bias fertig zu werden.
Die Dialektik der Aufklärung
So haben Horkheimer und Adorno einmal ein Buch betitelt, mit dem sie auf die dunkle Seite der Macht der Moderne aufmerksam gemacht haben. Und sind wir nicht alle längst ein wenig unsicher geworden, was die Segnungen der Moderne angeht? Dinge infrage stellen zu können, gehört zur guten Bildung. Nicht alles natürlich. Bevorzugt das, woran man eh zweifelt, siehe oben. Die Anhänger der alternativmedizinischen Skepsis sind oft aus dem Bildungsbürgertum. Sie wissen, dass der Fortschritt nicht nur Gutes mit sich bringt. Gibt es nicht viele Beispiele dafür, wie die Pharmaindustrie gefährliche Nebenwirkungen verschwiegen hat, Studien unterdrückt und gefälscht hat, Medikamente zu spät vom Markt genommen hat, weil ihr Geld über Gesundheit geht? Passt da nicht die Homöopathie viel besser in den Gegenentwurf eines naturverbunden Lebens, zur Ganzheitlichkeit unseres Daseins, zur Selbstbestimmung über die eigene Gesundheit? Der confirmation bias hilft auch dabei, richtig mit den vielen Informationen über Nebenwirkungen auf Beipackzetteln umzugehen: Das verunsichert doch sehr, man greift dann lieber zu den sanften Alternativen. Die schaden zumindest nicht, oder?
Befindlichkeitslotterie
Bislang dürften Homöopathika vor allem bei leichteren Beschwerden und bei Befindlichkeitsstörungen eingesetzt werden. Dass man auch Krebs homöopathisch heilen könne, daran glauben gottseidank doch nicht sehr viele – glaube ich. Mit den leichteren Beschwerden und den Befindlichkeitsstörungen ist es aber so eine Sache. Man hat ständig welche und die Symptomwahrnehmung hängt manchmal sehr davon ab, ob wir das Gefühl haben, etwas dagegen tun zu können oder nicht, wie gesagt. Ging der Schnupfen mit den Kügelchen nicht schneller vorbei als ohne? War nicht das Hautjucken ein oder zwei Tage später deutlich besser? Hat man nicht mit dem homöopathischen Mittel viel ruhiger geschlafen? Die Art der Symptome bei solchen Beschwerden, ihr Auswahlreichtum und ihre Wahrnehmungsplastizität ermöglichen immer wieder erfolgreiche Kombinationen von „Mittel“ und „hat geholfen“. Man muss nur richtig auswählen.
Der statistische Tellerrand
Ohne Zweifel gibt es erstaunliche Erfahrungen mit der Homöopathie, bei denen es um echte Heilungen geht und die zunächst auch nicht in das Muster der Spontanheilungen zu passen scheinen, wie sie natürlich auch bei chronischen und bei ernsten Erkrankungen vorkommen. Es gibt Menschen, die überzeugt sind, dass ihnen die Homöopathie wiederholt bei allen möglichen Beschwerden geholfen hat. Jeder weiß, wie unwahrscheinlich es ist, einen Sechser im Lotto zu tippen. Trotzdem geschieht es jede Woche, weil so viele Leute Lotto spielen. Der Zufall will es so. Natürlich würde man dann, wenn jemand 5 mal im Lotto gewinnt, nicht mehr an Zufall glauben. Und wenn homöopathische Mittel immer wieder geholfen haben, kann das Zufall sein? Nun denn, wenn die Homöopathie den gleichen Menschen 5 mal von einer unheilbaren Krankheit geheilt hätte, müsste man wohl nachdenklich werden. Aber die langjährigen Erfolge gibt es ja meist bei Infektionen oder anderen, vielleicht hartnäckigen, aber prognostisch nicht so schweren Erkrankungen. Da muss man nicht nachdenklich werden, sondern nachdenken und ein altbekanntes Selektionsphänomen auf die Homöopathie übertragen: Nehmen wir an, es gibt eine Krankheit, die wiederholt auftreten kann und die mit 50 % Wahrscheinlichkeit nach ein paar Tagen von alleine vergeht und mit 50 % Wahrscheinlichkeit nicht. Gibt man 10.000 Menschen ein Homöopathikum dagegen, werden 5.000 damit „geheilt“. Nehmen die „Geheilten“ beim nächsten Mal wieder Homöopathika, werden 2.500 erneut „geheilt“. Bei dritten Mal 1.250, dann 625 – danach kommen halbe Sachen raus, bleiben wir also bei den 625. Denen hat die Homöopathie viermal hintereinander „geholfen“. Gegen diese Erfahrung kommt kein Argument mehr an. Und wenn die 625 „Geheilten“, bei denen das doch kein Zufall mehr sein kann, das oft genug erzählen, werden vielleicht auch Skeptiker nachdenklich – wenn sie nicht nachdenken.
Soziale Glaubwürdigkeit
Damit bin ich bei meinem letzten Punkt: Je mehr Menschen glauben, dass an der Homöopathie „irgendetwas dran“ ist, desto glaubwürdiger wird sie. Es können sich doch nicht alle täuschen. Sogar Tante Erna hat es geholfen, immer wieder, und Tante Erna kennt man selber. Die Geschichte von Tante Erna ist gelebte Alltagsstatistik: sie ist der exemplarische Fall, der Fall, der für das Prinzip steht. Geschichten zeigen das Exemplarische überzeugender als Mittelwerte und Standardabweichungen. Die Bibel kennt nur „Gleichnisse“, um etwas Prinzipielles zu verdeutlichen. Von der Volkszählung abgesehen, sind die Beiträge der Bibel zur Statistik eher gering. Und wenn dann noch richtige Professoren sagen, dass Homöopathie helfen kann, der Staat der Homöopathie als einer der „besonderen Therapierichtungen“ unter Verweis auf einen Wissenschaftspluralismus in der Arzneimitteltherapie besondere Fürsorglichkeit zukommen lässt und die Krankenkassen die Kosten homöopathischer Behandlungen erstatten – dann muss was dran sein. Das würden die doch nie machen, wenn es nicht helfen würde. So etabliert sich Glaubwürdigkeit durch soziale Prozesse. Der Glaube an die Homöopathie ist ansteckend.
Die Liste ist sicher nicht vollständig, Sie finden bestimmt schnell noch andere Erklärungsmuster, z.B. im Zusammenhang mit der Regression zur Mitte (nachdem man so lange mit der Schulmedizin nicht weiterkam, hat man es mal mit der Homöopathie probiert – und es hat geholfen) usw. – aber ich will es dabei belassen. Sicher wird sich die geplante Hochschule für Homöopathie in Traunstein intensiv mit solchen Themen beschäftigen, sie soll sich ja wissenschaftlich mit der Homöopathie auseinandersetzen. Ein Lehrauftrag für Norbert Aust oder Christian Weymayr könnte da helfen.
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