Vor 2 Jahren wurde hier bei Gesundheits-Check schon einmal darauf hingewiesen, dass das von den Behörden für den Pandemiefall massenhaft und für Unsummen eingelagerte Grippemittel Tamiflu möglicherweise nicht hält, was es verspricht, dass man dabei aber ziemlich im Dunkeln tappt, unter anderem, weil ein großer Teil der Studiendaten nicht zugänglich ist. Eine aktuelle Cochrane-Studie kommt nun unter Einschluss zusätzlicher Daten zu einem vernichtenden Urteil über Tamiflu und das Schwesterprodukt Relenza: Kaum Wirkung auf die Verkürzung der Krankheitsdauer, keine Vorbeugung gegen schwere Komplikationen, dafür viele Nebenwirkungen.

”The review clearly recommends that guidance on the use of both neuraminidase inhibitors (oseltamivir and zanamivir) in the prevention or treatment of influenza should be revised to take account of the evidence of small benefit and increased risk of harms.”

Die Hersteller sehen die Sache erwartungsgemäß anders als die Cochrane-Forscher und bezweifeln sogar deren Kompetenz im Umgang mit den Daten. Nun denn, hier treffen evidenbasierte Medizin, Geschäft und Politik in seltener Schärfe aufeinander. Jetzt darf man gespannt sein, wie sich die Behörden verhalten und in welcher Weise sie ihre Pandemieplanungen an die neue Erkenntnislage anpassen.

Kommentare (14)

  1. #1 Marcus Anhäuser
    10. April 2014

    Interessanter Artikel von Ben Goldacre dazu, in dem er auch erklärt, wie ein einzelner Online-Kommentar letztlich die Sache ins Rollen brachtet:
    https://www.theguardian.com/business/2014/apr/10/tamiflu-saga-drug-trials-big-pharma?CMP=twt_gu

  2. #2 Spritkopf
    10. April 2014

    Wie ist denn jetzt eigentlich der Stand bei den Veröffentlichungsvorschriften für Studien, die von einem Pharmahersteller im Zuge einer Medikamentenzulassung durchgeführt werden? In seinem Buch “Die Wissenschaftslüge” forderte Ben Goldacre ja ziemlich vehement eine Veröffentlichungspflicht, aber ist die nicht inzwischen auch eingeführt worden? Wenn ja, wie weit reicht sie?

  3. #3 Hanno
    10. April 2014

    @Spritkopf:
    Da tut sich tatsächlich auf EU-Ebene gerade einiges, das EU-Parlament hat da kürzlich was beschlossen was dann wohl bald in Gesetze fließen sollte. Aber ein großes Problem: Das gilt alles *nur* für die Zukunft. Es gibt bislang keine Bemühungen seitens der Politik, eine Verpflichtung zur Veröffentlichung von Studien aus der Vergangenheit einzuführen.
    Ben Goldacre dazu:
    https://www.alltrials.net/2014/europe-votes-for-clinical-trial-transparency/

  4. #4 rolak
    10. April 2014

    in seltener Schärfe

    Nu ja, Joseph, der Auseinandersetzung Schärfe ist aller Erfahrung nach eine Funktion der in das umstrittene Thema involvierten Summen (oder, nicht zu vergessen, von der ideologischen Gebundenheit) – in diesem Falle dürfte ‘hot chili’ die untere zu erwartende Grenze gewesen sein.

  5. #5 Tamifull
    Schweiz
    11. April 2014

    In diesem Thread ist ja mal richtig was los.

    Kein Wunder, sind doch viele derer, die hier regelmäßig posten, damals bei der Impfung (como siempre) mutig vorangeschritten. Sie gehörten und gehören nach wie vor zu den ersten und besten.

    Die Cochrane-Leute sollten besser aufpassen, dass es ihnen nicht so wie dem Iqwig ergeht.

    • #6 Joseph Kuhn
      11. April 2014

      Wie meinen?

  6. #7 Tamifull
    12. April 2014

    Will meinen, wenn die Cochrane-Leute mehr solcher Sachen bringen, dann können sie sich schon mal darauf gefaßt machen, bald durch bessere, unabhängige, Instanzen ersetzt zu werden.

  7. #8 Joseph Kuhn
    12. April 2014

    @ Tamifull:

    Einmal unterstellt, dass Sie nicht die Ironietags vergessen haben und das, was Sie sagen, so meinen. Was gefällt Ihnen denn an dem Cochrane-Review nicht? Das Ergebnis zur Wirksamkeit der Neuraminidase-Hemmer? Oder die Schlussfolgerung daraus, dass die Behörden ihre Beschaffungspolitik bzw. ihre Pandemiepläne überdenken sollen? Oder die Forderung, dass künftig alle Studiendaten verfügbar sein sollen, bevor man so weitreichende Entscheidungen für den Pandemiefall trifft? Und wie stellen Sie sich vor, die Autoren Tom Jefferson, Carl Heneghan und Peter Doshi zu “ersetzen”? Durch ein Verbot pharmakritischer Forschung? Durch einen “Unfall”? Und – nachdem Sie so ein anspielungsreiches Pseudonym gewählt haben: was verbindet Sie mit der Sache?

  8. #9 Tamifull
    19. April 2014

    Beim Iqwig wurde Sawicki abgesetzt, weil er zu kritisch war – das Iqwig wurde mittlerweile gezähmt.

    Das gleiche kann auch mit dem Cochrane-Institut geschehen, wenn es sich weiterhin um unabhängige Aufklärung bemühen sollte.

    Darauf wollte ich unfallfrei hinweisen, ist mir aber offenbar nicht gelungen. Kurz gesagt: Das Cochrane-Institut ist sehr zu loben und darf deshalb als gefährdet gelten.

  9. #10 Joseph Kuhn
    20. April 2014

    @ Tamifull: Danke für die Klarstellung. Die causa Sawicki ist in der Tat eine Geschichte, bei der einem “gesunde Zweifel” kommen dürfen. Das gleichnamige Buch von Ursel Sieber sei allen empfohlen, die sich dafür interessieren.

    IQWIG und Cochrane sind aber zwei paar Schuhe, der Schuh drückt jeweils woanders, das würde hier zu weit führen.

  10. #11 klauszwingenberger
    22. April 2014

    Das IQWIG ist eine deutsche Bundesbehörde, die Cochrane Collaboration eine private Arbeitsgemeinschaft. Es hat wenig Sinn, Einflussmöglichkeiten hier miteinander zu vergleichen oder gar gleichzusetzen.

  11. #12 Joseph Kuhn
    22. April 2014

    @ klauszwingenberger

    Genau genommen ist das IQWIG keine Bundesbehörde. Das Institut wird von der “Stiftung für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen” getragen, einer Stiftung öffentlichen Rechts. Diese Konstruktion soll u.a. gewährleisten, dass das Institut unabhängig von unmittelbarem Staatseinfluss arbeiten kann. Das hat den ersten Leiter des IQWIG, Peter Sawicki, allerdings nicht davor bewahrt, dass kurz nach Amtsantritt des damaligen Gesundheitsministers Rösler in einer – wie soll man es nennen – “besonderen gesundheitspolitischen Interessengemengelage” die Überprüfung seiner Spesenabrechnungen veranlasst wurde, die dann zu seiner Ablösung führte.

  12. #13 Joseph Kuhn
    12. Mai 2014

    Update 12.5.2014: Meldung in der Ärztezeitung online heute: “Regierung hält an Tamiflu & Co. fest”. Nun denn, möge das im Pandemiefall hilfreicher sein als Gesundbeten.

  13. #14 Dagda
    20. Mai 2014

    @Joseph Kuhn

    Naja, wirkungslos ist Tamiflu ja nicht und wir haben relativ gute Gründe anzunehmen, dass Neuraminidasehemmer bei einer Pandemie besser wirken als sozusagen in der Saison.
    Eine relative gute Begründung findet man z.B. hier:
    https://www.sciencebasedmedicine.org/cochrane-reviews-the-food-babe-of-medicine/