Heute ist im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung ein Essay „Loslassen!“ von Alexander Mühlauer, der das Unbehagen der Neoliberalen mit den Folgen ihres eigenen Denkens sehr gut auf den Punkt bringt. Ungewollt, natürlich. Mühlauer beschreibt, was derzeit in seinen Kreisen wohl Mode ist: einen angeblichen oder tatsächlichen Trend zur Verhaltenssteuerung durch „Nudges“, kleine Anstöße, die die Entscheidung der Menschen in eine gewünschte Richtung leiten sollen. Der Ansatz ist durch das Buch „Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt“ von Thaler und Sunstein auch in der breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden und soll sich der Sympathie von Merkel & Co. erfreuen. Neu ist das Ganze nicht, schon die gute alte Werbung hat versucht, uns dahin zu bekommen, dass wir uns frei ihren Versuchungen hingeben. Nun also „Nudges“. Darüber darf man und muss man natürlich diskutieren. In meinem Arbeitsfeld gibt es einen vielzitierten Spruch – „make the healthy choice the easier choice“. Das kann man gut als Anleitung zum Gebrauch von Nudges verstehen. Kann, muss nicht. Jedenfalls gibt es da ein Spannungsverhältnis zum Ansatz des „Empowerment“, des Befähigens von Menschen zur gemeinsamen Selbstbestimmung über ihre Gesundheit, wie es seinerzeit die berühmte Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation propagiert hat, über das man in den Gesundheitswissenschaften durchaus etwas mehr nachdenken sollte.
Nun gut, Mühlauer stellt also fest, wir würden uns immer mehr in Richtung eines Nanny-State bewegen. Empirische Belege dafür bringt er nicht, es ist halt so ein Gefühl. Das macht sich daran fest, dass das Rauchen eingeschränkt wird (wobei es da übrigens gar nicht um Nudges geht, sondern um Verbote) und dass uns auch sonst unser Leben immer mehr aus der Hand genommen würde: „Nicht rauchen, nicht zu schnell Auto fahren und bloß nicht fett essen – der Staat schreibt den Bürgern immer stärker vor, wie sie leben sollen.“ Aha. Wie gesagt, wenn der Staat vorschreibt, hat das mit Nugdes nicht viel zu tun. Und ob damit der Trend der gesellschaftlichen Entwicklung richtig beschrieben ist, wäre auch zu hinterfragen, wenn man sich daran erinnert, was noch vor 50 Jahren in unserem Land alles moralisch verpflichtend war, vom sonntäglichen Kirchgang bis zur Muttertierrolle der Frauen. Ich habe den Eindruck, wir haben trotz aller Nudgeridis viel mehr Freiheit als früher, und mehr, als uns der neoliberale Kulturpessimismus glauben machen will. Mühlauer sieht das ganz anders, weil man ihn auf den Kaloriengehalt seines Schweinebratens hinweist – verdammte Nudges. Folgerichtig plädiert er dafür, dass doch jeder das Recht auf Unvernunft habe. Wer würde dem im Prinzip widersprechen wollen. Ob das allerdings auch der richtige Kommentar zum aktuellen Masernausbruch in Berlin ist, sei einmal dahingestellt. Vielleicht doch eher nur so ein „Gefühl“.
Erschreckend ist jedenfalls das Fazit, das Mühlauer aus seinem Unbehagen zieht. „Ein bisschen mehr Staatsskepsis wäre aber dringend nötig. Nur wer das Handeln der politischen Klasse kritisch hinterfragt, kann selbstbestimmt entscheiden.“ Dem kann man nur zustimmen, mit Blick auf die Verhandlungen um TTIP, die Griechenlandpolitik, die Maut oder andere Dinge. Aber darum geht es Mühlauer natürlich nicht. Der Staat, so schreibt er unter Berufung auf Humboldt, täte gut daran, sich jeder Einflussnahme auf „die Sitten und den Charakter der Nation“ zu enthalten. „Tut er das nicht, entzieht er den Bürgern das, was sie dringend brauchen: Freiheit. Und jetzt: Öfters mal mit Freunden ein Glas trinken, beim Kaffee eine Zigarette rauchen, Ballspielen an einem warmen Abend im Mai. Sonst noch was? Sonst nichts.“ Auch dagegen ist nichts einzuwenden. Aber sonst nichts? Sind das wirklich die Punkte, an denen man nach mehr Staatsskepsis rufen muss, wie Mühlauer meint? Es sind jedenfalls nicht die Punkte, an denen Stéphane Hessel „Empört Euch!“ gerufen hätte. Und Friedrich Nietzsche hätte sich bei der Lektüre von Mühlauers Essay wohl im Grab umgedreht, wenn er könnte. Mühlauer versteht Freiheit hier genau als das behagliche Hausschweindasein, mit dem Nietzsche die „letzten Menschen“ charakterisiert hat. Was für ein geistig retardierter Freiheitsbegriff!
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