Harald Walach und das „Institut für transkulturelle Gesundheitswissenschaften“ an der Viadrina in Frankfurt/Oder waren – ausgehend von einer skurrilen Masterarbeit, die an diesem Institut geschrieben wurde – hier auf Gesundheits-Check schon mehrfach Diskussionsthema. Vor ein paar Tagen hat Harald Walach das Symposium „Weniger ist mehr“ in Berlin mitorganisiert. Thema des Symposiums war die Frage, ob die Medizin nicht oft zu viel und zu viel des Falschen tut. Diese Frage wird man ohne Weiteres mit ja und mit nein zugleich beantworten können. „Über-, Unter- und Fehlversorgung“ hatte der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen vor einiger Zeit zu Recht am Gesundheitswesen in Deutschland kritisiert. All das gibt es nebeneinander, also auch Über- und Fehlversorgung. In den USA hat sich vor ähnlichem Hintergrund z.B. die Choosing Wisely-Initiative entwickelt, die seit kurzem auch in Deutschland diskutiert wird.
Bei dem Symposium in Berlin trafen sich pharmakritische Geister unterschiedlicher Provenienz, beispielsweise waren Peter Gøtzsche, Direktor des Cochrane-Zentrums in Kopenhagen und Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, dabei. Einen kurzen Bericht über das Symposium kann man im Deutschen Ärzteblatt nachlesen. Ob Kritik an Missständen der Pharmaindustrie und unnötigen medizinischen Behandlungen hier etwas zusammenwachsen ließ, was nicht zusammengehört? Jedenfalls wird diese Kritik nicht falsch, wenn sie von der alternativmedizinischen Szene formuliert wird, sie wird auch nicht dadurch falsch, dass diese Veranstaltung wohl auch eine hidden agenda hatte, um dem Frankfurter Institut hochschulpolitische Geländegewinne zu verschaffen – schließlich hatte die Brandenburgische Hochschulstrukturkommission 2012 empfohlen, das Institut schlicht und einfach zu schließen.
Harald Walach hatte das inhaltliche Anliegen des Symposiums vorab auf seiner Internetseite kommentiert. Dabei schreibt er – neben vielem, dem man zustimmen kann – einen Satz, den ich hier einmal zur Diskussion stellen möchte:
‘Aber wie gesagt: in der Mehrzahl der Fälle sind die Probleme chronisch, funktional – d.h. wir wissen nicht, was los ist – und die Symptome fordern vielleicht sogar den „Leidenden“ auf sich aus der Leidensrolle herauszubegeben und selber aktiv zu werden. „Was muss ich ändern – in meinem Verhalten, in meinem Lebensstil, in meinem Arbeitskontext, in meinen Beziehungen, in meiner Beziehungsgestaltung, in meinem Bezug zur Welt, in der Art und Weise, wie ich mein Leben lebe – damit ich gesund, ganz und heil werde?“ So könnte man die Handlungsaufforderung, die hinter der Erkrankung stehen kann, beschreiben.‘
Da wird eine in alternativmedizinischen Kreisen gängige psychosomatische und zugleich mittelschichtsfixierte Variante der Eigenverantwortungsideologie formuliert, nach dem Motto, meine Krankheit teilt mir etwas mit, sie drückt aus, dass in meinem Leben etwas falsch ist und ich habe es selbst in der Hand, dies zu ändern. Natürlich, oft wird das so sein, aber wie oft? Der erste Satz der zitierten Passage ist schon empirisch fraglich, zu sehr an der Situation der Allgemeinarztpraxis mit den vielen chronisch Kranken und den Patienten mit unspezifischen Symptomen abgelesen. Gilt das auch für die Kinderarztpraxis, die Augenarztpraxis, die Frauenarztpraxis? Wie dem auch sei, seine darauf folgende Perspektive halte ich für grob irreführend. Die Sozialepidemiologie hat inzwischen in tausenden Studien gezeigt, dass der wichtigste Einflussfaktor auf die Gesundheit der Menschen die soziale Lage ist. Das untere Einkommensfünftel stirbt etwa 10 Jahre früher als das obere. Man verstehe mich nicht falsch: Vieles an unserem Lebensstil ist nicht sonderlich gesund und vieles kann man selbst ändern. Aber dass man „gesund, ganz und heil“ wird, das steht eben allzu oft nicht in unserer Macht und ein solches Heilversprechen an einen Wandel des Lebensstils zu knüpfen, ist Hybris. Hier kehrt im Gewande eines alternativmedizinischen Irrtums eben jene Omnipotenzphantasie wieder, die das Symposium bei der etablierten Medizin anprangert: dass sie einem Machbarkeitswahn verfallen sei, der die vernünftigen Grenzen des eigenen Tuns nicht mehr erkennt.
Und noch ein Gedanke: Gehört nicht das meiste aus dem Repertoire der Alternativmedizin, die Homöopathie samt vielen anderen Verfahren, genauso zu dem, was man besser lassen sollte, genauso unter die Überschrift „Weniger ist mehr“ wie eine unnötige Antibiotika-Behandlung? Ob darüber in Berlin auch diskutiert wurde?
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