In Europa wird derzeit heftig über Islam, Islamismus, Terror, Flüchtlinge, Freiheit, Grenzen, europäische Solidarität, arabisch und nordafrikanisch aussehende junge Männer, Rassismus, Sexismus und das Oktoberfest diskutiert. Es geht offensichtlich um das Eingemachte, um das, was unsere Werte sind und unsere Identität ausmacht. Gut, Fußball fehlt. Die Diskussionen sind – auch hier auf Scienceblogs – häufig durch Frontenbildung geprägt: Auf der einen Seite die, die Migrant/innen und Flüchtlinge kritisch beäugen, auf der anderen Seite die, die wiederum dieses kritische Beäugen kritisch sehen. Die Bereitschaft zur Verständigung ist meist gering, Fakten fungieren weniger als Leuchttürme der Orientierung denn als Munition zur Verteidigung der eigenen höheren Wahrheit.
Ich will dazu nicht den Stammtisch wiedereröffnen, den ich im Beitrag zu Björn Höcke gerade geschlossen habe. Mir geht es vielmehr darum, dass die Diskussion um das Eingemachte in gewisser Weise auch einen Bogen um das macht, was unsere Welt im Innersten zusammenhält. Wenn die Freunde des gepflegten Herrenwitzes plötzlich die Frauenrechte entdecken, von konservativen Kreisen die Rechte von Homosexuellen ins Feld geführt werden oder Pegida-Mitläufer demonstrativ das Recht auf Meinungsfreiheit hochhalten, das sie „linken Zecken“ nie zugestehen würden, kann sich jeder denken, dass es genau um solche Grundwerte nicht wirklich geht. Die Form, in der sie angesprochen werden, hüllt sie zugleich ein, instrumentalisiert sie als Mittel der ideologischen Kriegsführung und nimmt sie aus der Diskussion heraus. Dabei wäre es im Moment, in diesen unruhigen Zeiten, durchaus notwendig, sich darüber zu verständigen, wie wir leben wollen, wie es weitergehen soll, was uns wichtig ist. Vor einiger Zeit hatte ich hier auf Gesundheits-Check schon einmal gefragt, ob die gegenwärtige Situation in der Welt nicht auch eine Anfrage an die „Werte des Westens“ ist. Heute ist in der Süddeutschen Zeitung ein Kommentar von Detlef Esslinger unter der Überschrift „Unsere Art zu leben“, der das ebenfalls tut und darauf verweist, dass wir unsere Art zu leben nur allzu oft darüber definieren, dass „der Wirt Heizpilze auf den Gehsteig stellt, damit man auch im Januar den Wein und den Barsch draußen genießen kann.“ Was geht uns in dem Zusammenhang an, wie die Menschen in Afrika oder im Nahen Osten leben? „Eure Armut kotzt mich an“ hieß das früher, als es beim Geltendmachen des Rechts auf ungestörten Konsum nur gegen die autochtonen Verlierer „unserer Art zu leben“ ging.
Freiheit, Frauenrechte, sexuelle Selbstbestimmung, kulturelle Gemeinschaft, Multikulti, das Recht auf Unterschiedlichkeit, Burka und Lederhose, die Rolle des Staates, der Stellenwert des Geldes, soziale Ungleichheit – Themen, über die man schon hätte diskutieren sollen, bevor es von außen anklopft. Was ist „unsere Art zu leben“? Wer bestimmt sie? Wer spricht für sie? Wer denkt wirklich darüber nach? Wer benutzt sie nur wie einen Gesslerhut? Wer bedroht sie wirklich – und in welchen Punkten vielleicht zu Recht? Allzu feste Überzeugungen sind da nicht immer hilfreich.
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