Wir leben in einer wissenschaftlich und technisch geprägten Zeit. In jeder Talkshow werden „Studien“ zitiert, sitzen „Experten“, die darlegen, was die Wissenschaft zu diesem oder jenem zu sagen hat. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite vertreibt die Wissenschaft aus der Sicht vieler Menschen nicht nur die alten Wunder aus der Welt, sondern auch den Sinn, die Schönheit und das Geheimnis des Daseins. Also müssen neue Wunder her. Die werden wie früher der „Lückengott“ gerne dort platziert, wo die Wissenschaft noch keine Antworten hat oder ihre Antworten so kompliziert sind, dass sich scheinbar Türen zu anderen Realitäten auftun, z.B. wenn es um Quantentheorie geht. Letzteres hat den Vorteil, dass man die Wissenschaft nicht ablehnt, sondern sie sogar besser versteht als die, die sie machen.
Diesem Muster folgen auch die Anbieter esoterischer Therapien. Dabei kommt es regelmäßig zu einem typischen Gedankengang mit anschließendem Sprung in den logischen Abgrund, den ich in einer Diskussion kürzlich nebenan bei „Kritisch gedacht“ als „esoterischen Fehlschluss“ charakterisiert habe. Aus richtigen Prämissen wird scheinbar ganz folgerichtig etwas Falsches abgeleitet:
1. Der Mensch ist nicht auf naturwissenschaftlich beschreibbare materielle Sachverhalte reduzierbar (stimmt, ist er nicht, zumindest nicht in einer physikalistischen Weise).
2. Es gibt eine spirituelle Dimension des Daseins (stimmt).
3. Die Naturwissenschaft kann nicht alles erklären (stimmt, nicht einmal alle naturwissenschaftlichen Fragen, sonst könnte man ihre Institute zuschließen).
4. Unumstößliche Wahrheit gibt es in der Wissenschaft nicht (stimmt, auf jeden Fall in den empirischen Wissenschaften und wenn man Quine folgt, sogar bis in die Logik hinein).
5. Also darf man auch Dinge wie Schamanismus, Geistheilung, Homöopathie etc. nicht ausgrenzen, weil alles gleichberechtigte Sichten auf die Welt sind.
Es gibt viele Brüder und Schwestern dieses Fehlschlusses, schließlich sind die Anhänger des Pluralismus in der Medizin auch um kreative Vielfalt in der Logik nicht verlegen. Ein „Klassiker“ ist beispielsweise der Schluss von Fehlentwicklungen in der Medizin, etwa den Machenschaften der Pharmaindustrie, auf die Legitimität jedweden Unsinns in der Alternativmedizin: Weil Franz bei Rot über die Ampel ging, darf Peter die Geschwindigkeitsbegrenzung überschreiten. Völlig logisch.
Und wenn eine Studie gerade einmal wieder zu zeigen scheint, dass das Homöopathikum X gegen die Krankheit Y wirkt, leitet sich daraus für Sachverständige der verdünnten Logik ganz stringent ab, dass folglich auch Homöopathikum Y gegen die Krankheit X wirkt. Das könnte man den „Geht eins, geht alles-Fehlschluss“ nennen. Ein Fehlschluss, bei dem auch noch die Prämisse falsch ist, aber darauf kommt es hier nicht an. In verallgemeinerter Form lässt sich nach diesem Denkschema aus der vermeintlichen Wirksamkeit eines seltsamen Verfahrens auch auf die Wirksamkeit anderer seltsamer Verfahren schließen, etwa der Tachyonentherapie oder des “Kozyrevspiegels“. Wer daran zweifelt, übersieht, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als sich unsere Schulweisheit träumen lässt (siehe oben Punkt 3), ab da weiter nach dem ersten Muster der springenden Vernunft, q.e.d. Wo die höhere Vernunft am Werk ist, ist alles möglich.
Nachtrag: Drüben bei GeoGraffitico geht es gerade um Verschwörungstheorien. Auch da sind paralogische Schlussverfahren bekanntlich sehr beliebt, von der Grundstruktur her oft die gleichen wie hier.
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