Wann ist Satire gut? Wenn sie die auf dem Sofa Sitzenden gut unterhält? Satire als lustiger Zeitvertreib ist gescheiterte Satire. Satire ist dann gut, wenn sie einen spüren lässt, wie dumm und gutgläubig man selbst ist. Sie ist sehr gut, wenn sie damit auch das politische Establishment aufschreckt. Wann ist das zuletzt gelungen? Als Dieter Hildebrandts “Scheibenwischer” 1986 im Bayerischen Rundfunk abgesetzt wurde? Als die Titanic Papst Benedikt im Zusammenhang mit dem Vatileaks-Skandal 2012 ein Titelbild gewidmet hatte – inkontinent mit gelbem Fleck auf der Soutane? Viele echte Aufreger hat die deutsche Satire jedenfalls nicht zu bieten.
Und was darf Satire? Diese Frage hat Kurt Tucholsky vor 100 Jahren mit “Alles” beantwortet. Das war vor den Nazis. Heute wäre ich da vorsichtiger. Juden in der Gaskammer als Gegenstand der Satire? Schwierig. Da kommt man sicher leicht an die “Grenzen der Satire”, wenn man nicht aufpasst. Böhmermann hat, so liest man es jetzt nach dem ersten kollektiven Erschrecken über sein Erdogan-Gedicht, diese Grenzen der Satire ausgetestet. Sein Gedicht ist geschmacklos, klar, sonst hätte es nicht funktioniert. Politisch korrekter, feiner untergründiger Humor würde in Sachen Erdogan niemanden vom Sofa aufstehen lassen. Aber musste Böhmermann dazu rassistische Sprachbilder benutzen, wie das vom Ziegenficker, also Anleihen rechts außen nehmen? Schwierig.
Eigentlich ein schönes Diskussionsthema, darüber werden bestimmt einmal literaturwissenschaftliche Seminararbeiten geschrieben. Vielleicht hätte Erdogan Böhmermann auch noch angezeigt und Böhmermann wäre nach § 103 StGB wegen Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaupts verurteilt worden, das ZDF hätte unter Anwendung von § 200 StGB die Verurteilung öffentlich machen müssen – das hätte was werden können. Man hätte im Prozess gegen Böhmermann über Kunst und Politik, über die Würde Erdogans streiten können. Man hätte das Urteil des königlichen Landgerichts I gegen Oskar Panizza aus dem Jahr 1895 wieder ausgraben und hoffentlich einen Fortschritt des öffentlich-rechtlichen Kunstverständnisses feststellen können. “Ein Scheusal, wie der Gottesvertreter Borgia, verträgt keinen reinen majestätischen Himmel, und umgekehrt. Aber ist das die Schuld des Dichters?” – so bereits damals, 1895 wie gesagt – Michael Georg Conrad in seinem Sachverständigengutachten zu Panizzas Stück. Das Landgericht ist dem Sachverständigen nicht gefolgt, es hat Panizza verurteilt.
Aber dann ruft die Kanzlerin den türkischen Ministerpräsidenten Davutoğlu an und man ist sich einig, dass Böhmermanns Gedicht “bewusst verletzend” sei. Erdogan wird jetzt wohl keine Anzeige stellen (das haben andere für ihn getan), stattdessen verständigen sich der deutsche Staat und der türkische Staat gemeinsam auf die Grenzen der Satire. Das ist keine Satire, das ist Politik, und zwar Politik mit einer miesen Bilanz: Erdogan, der in seinem Land missliebige Journalisten einsperren lässt, den Bürgerkrieg mit den Kurden neu angefacht hat, ein seltsames Verhältnis zum IS pflegte und vielleicht noch immer pflegt – der steht auf einmal als “bewusst verletztes” Opfer da. Ist das nicht seltsam? Immerhin, anders als Panizza wäre Böhmermann nicht wegen Gotteslästerung verurteilt worden.
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Nachtrag 10.4.2016:
Heute hat die türkische Regierung doch formal die Strafverfolgung Böhmermanns verlangt, siehe dazu auch die Diskussion hier in den Kommentaren.
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