In der Epidemiologie gibt es das Konzept der sog. „vermeidbaren Sterbefälle“. Im Glossar der Gesundheitsberichterstattung des Bundes werden sie als Sterbefälle definiert, “die bei angemessener Krankheitsprävention oder Therapie hätten verhindert werden können.“
Das Konzept wird auf verschiedene Weise operationalisiert, indem bestimmte Diagnosen aus der Todesursachenstatistik als „vermeidbar“ gezählt werden. Jeder Variante wohnt eine gewisse Willkürlichkeit inne. In der Gesundheitsberichterstattung des Bundes, die sich an einen Vorschlag des Sachverständigenrats im Gesundheitswesen anlehnt, zählen z.B. die Verkehrsunfälle nicht dazu, nach einer Liste der Obersten Landesgesundheitsbehörden dagegen schon. Die Arbeitsunfälle scheint man dagegen auch hier für unvermeidbar zu halten. Gut, das ist nicht ganz fair, weil es beim Konzept der vermeidbaren Sterbefälle letztlich nicht um die einzelnen Diagnosen geht, sondern um die Bestimmung von übergreifenden Problemen in der Prävention und Versorgungsqualität. Die Diagnosen dienen dabei als Hinweisgeber, d.h. das Konstrukt der vermeidbaren Sterbefälle soll sensibel gegenüber der Versorgungsqualität bzw. den präventiven Standards im Zeitvergleich oder im Regionalvergleich sein. Die gängigen Varianten einmal im Hinblick auf ihre diesbezügliche Funktionalität zu überdenken, würde allerdings nicht schaden. Vermutlich hat sich das schon lange niemand mehr gründlicher angesehen.
Nimmt man die vermeidbaren Sterbefälle, die in der Gesundheitsberichterstattung des Bundes ausgewiesen werden, so zeigt sich, dass sie kontinuierlich zurückgehen und der Abstand zwischen Männern und Frauen in den letzten 30 Jahren stetig abgenommen hat:
Man kann das als Verbesserung der Leistungsfähigkeit des Versorgungssystems interpretieren. Nach Bundesländern differenziert betrachtet lässt sich eine deutliche Konvergenz der Sterberaten erkennen, von der insbesondere auch die ostdeutschen Länder profitiert haben. Sie sind nach der Wiedervereinigung von einem sehr hohen Ausgangsniveau gestartet und liegen jetzt mehr oder weniger im Bundesdurchschnitt. Dass Bayern auch bei der vermeidbaren Sterblichkeit über die letzten 30 Jahre schon immer etwas besser als der Bundesdurchschnitt abgeschnitten hat, sei pflichtschuldigst angemerkt.
In den heutigen Wirren der Weltpolitik weckt der Begriff der vermeidbaren Sterbefälle aber noch ganz andere Assoziationen. Die Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken, die Opfer des brutalen Kriegs in Syrien, die Verhungernden im Sudan – auch das sind alles vermeidbare Sterbefälle. Dass im 21. Jahrhundert, in einer Zeit, in der Menschen den Marsflug planen, mit der CRISPR/Cas-Methode Gene zielgenau verändern können und in gigantischen Teilchenbeschleunigern den subatomaren Bausteinen der Materie nachspüren, so etwas noch vorkommt, ist eine Schande für die ganze Menschheit.
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