Im letzten Jahr ist das Präventionsgesetz in Kraft getreten – der lange Weg dahin war hier auf Gesundheits-Check mehrfach Thema. Viele haben engagiert darauf hingearbeitet, aber nicht alle sehen das Gesundheitswesen mit einer stärker präventiven Orientierung auf dem richtigen Weg und erst recht nicht alle sehen diesen Weg schon hinreichend gut ausgeleuchtet.
In der Prävention geht es bekanntlich darum, Krankheiten zu vermeiden. Dabei spielen Risikofaktoren des Lebensstils eine besondere Rolle, z.B. Rauchen, Alkoholmissbrauch, Bewegungsmangel oder ungesunde Ernährung. Die Identifikation von Risikofaktoren in epidemiologischen Studien ist aber noch nicht gleichbedeutend damit, dass man weiß, was einen gesunden Lebensstil ausmacht und was dafür zu tun wäre. Die Frage, ob eine Präventionsmaßnahme, die auf einen Risikofaktor abzielt, auch wirklich präventiv wirksam ist, muss für sich genommen untersucht werden, sie ist nicht schon mit der Bestimmung des Risikofaktors beantwortet. Dies gilt selbst dann, wenn der jeweilige Risikofaktor nicht nur mit schlechterer Gesundheit korreliert, sondern eine kausale Rolle spielt. Es kommt auf den Gesamtzusammenhang der vielen interagierenden Faktoren an. Bewegungsmangel ist nicht gut für die Gesundheit, aber ob gezieltes Sporttreiben, z.B. Laufen, präventiv wirksam ist oder nicht, und ob es bei allen Menschen wirksam ist oder nur bei manchen, muss man eben untersuchen. Genauso wie den Effekt von Ernährungsempfehlungen oder von Rauchverboten in der Gastronomie.
Ebenfalls zu bedenken: Der Rat zu Lebensstiländerungen oder gar ihre Durchsetzung durch verhältnispräventive Maßnahmen stellen einen Eingriff in die private Lebenssphäre der Menschen dar, ihre aus den unterschiedlichsten Gründen gewählte Lebensführung. Dafür sollte es gute Gründe geben. Wenn die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen nicht belegt ist, oder die Effektstärken klein sind, ist es folglich auch mit den guten Gründen nicht weit her, deswegen den Lebensstil zu verändern.
Das ist nichts Neues. Auch, dass die Wirksamkeit vieler Präventionsmaßnahmen, insbesondere auch von Lebensstilinterventionen, nicht gut belegt ist, dass oft Interventionsstudien fehlen und hier Abhilfe geschaffen werden muss, spricht sich langsam herum.
Ich habe gerade ein Buch des Heidelberger Endokrinologen Peter Nawroth gelesen, das sich ebenfalls kritisch mit der Prävention, vor allem beim Thema Diabetes mellitus, auseinandersetzt. Auch er führt die dünne Studienlage an und auch er betont, dass epidemiologische Studien immer Aussagen über Kollektive treffen, nicht über ein Individuum. Bei kleinen Effektstärken bzw. einer hohen „number needed to treat“ (wenn viele ihr Verhalten ändern müssen, damit ein paar darunter sind, die davon profitieren) ist die Zumutbarkeit von Verhaltensänderungen fraglich. Bei diesem Argumentationsgang ist Nawroth, wie gesagt, up to date, auch wenn er einmal mehr das ewige Missverständnis in die Welt setzt, bei der evidenzbasierten Medizin würde der Einzelfall nicht zählen (Seite 44). Das stimmt schlicht nicht. Evidenzbasierte Medizin soll externe Evidenz aus Studien, interne Evidenz aus der ärztlichen Erfahrung und die Präferenzen der Patient/innen zusammenbringen, nicht das eine gegen das andere ausspielen. Auch an einigen anderen Punkten nimmt es das Buch nicht immer ganz genau, etwa wenn mehrfach Signifikanz und Relevanz von Effekten durcheinander kommen (z.B. Seite 112) oder – unfreiwillig komisch – eine Alkoholaufnahme von 40 g als „gewaltige Menge“ dargestellt wird (Seite 282).
Bemerkenswert an dem Buch ist aber etwas anderes: der dezidiert christliche Standpunkt der Kritik. Nawroth verweist auf die biblische Bedeutung des einzelnen Menschen. Während Gott die einzelne Person bei seinem Namen rufe, trete der Einzelne in der Epidemiologie hinter das Kollektiv zurück. Nawroths Sprache ist dabei religiös aufgeladen, die Rede ist z.B. von den „Anbetern der Lebensstil-Prävention“, er stilisiert (durchaus zu Recht) den Gesundheitshype als Gesundheitsreligion, als Konkurrenz zum christlichen Glauben, zitiert immer wieder christliche Quellen und appelliert an die Kirchen, gemeinsam mit der Medizin die Debatte über das richtige Leben zu führen. Die Kritik an der Prävention tritt so in den Dienst eines Plädoyers zum Glauben an Gott – aus seiner Sicht im Vergleich zur Gesundheitsreligion wohl der bessere Glaube: „Nur noch wenige Menschen erkennen die Erfüllung ihres Lebens in der Selbstfindung in Gott. Die meisten fühlen sich verpflichtet, sich selbst um sich zu kümmern, für sich selber zu sorgen, sich komplett selber zu verwirklichen, alles ohne jede Hilfe, ohne Anspruch auf Gnade, ganz allein für alles selber verantwortlich zu sein.“ Dass diese – im Prinzip sicher zutreffende – Feststellung eigentlich nicht zum Buchtitel „Die Gesundheitsdiktatur“ passt, sei nur am Rande angemerkt.
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