Im Moment wird viel über Filterblasen und Echokammern durch selektive Informationen im Internet diskutiert, über das postfaktische Zeitalter, in dem wir angeblich leben, über motivated reasoning und cultural cognition, über schnelles und langsames Denken und gar nicht Denken. Es geht dabei stets darum, warum wir uns manchmal (und die Andern sich dauernd) auch augenscheinlichen Fakten verweigern und wir so standhaft gegen alle kritische Einwände unsere Meinungen verteidigen. Die gerade genannten Dinge spielen dabei sicher eine große Rolle.
Mir kam dazu ein Gedanke, den ich hier einmal zur Diskussion stellen will. Es gibt dazu meines Wissens keine Empirie, es ist also nur eine spekulative These. Einer alten soziologischen Erzählung zufolge sind wir seit langem nicht mehr in traditionalen Gesellschaften zuhause, in denen uns durch Religion und Abstammung weitgehend vorgegeben wurde, wie wir zu leben haben. Stattdessen haben die westlichen Gesellschaften einen Prozess der Individualisierung durchlaufen. Wir können viel mehr als früher selbst darüber entscheiden, wie wir leben, was wir arbeiten, wen wir heiraten usw. – eine in vieler Hinsicht befreiende Entwicklung. Wie der Anfang letzten Jahres verstorbene Ulrich Beck schon 1986 in seinem Buch „Risikogesellschaft“ festgestellt hat, hat diese Entwicklung aber auch ihre Kehrseiten, z.B. die mit der Individualisierung verbundenen Entscheidungszwänge und das Risiko des selbst zu verantwortenden Scheiterns.
Daran anschließend: Kann es sein, dass das auch eine Teilerklärung für die gegenwärtig diskutierte faktenimmune Rechthaberei allerorten ist? Wir müssen von früh bis spät – und immer unter Unsicherheit – entscheiden: in welche Kita wir unsere Kinder schicken sollen, wie wir aus Studiengängen, unter deren Namen wir uns kaum etwas vorstellen können, den richtigen auswählen, welche Lebensversicherung die richtige ist, welcher der luxuriösen Kaffeevollautomaten für uns am besten passt oder was überhaupt das richtige Geschäft dafür ist, ob beim Auto die Motorvariante X oder Y mehr bringt oder wir doch lieber auf das Auto ganz verzichten sollten, wegen dem Klimawandel. Wir entscheiden ständig. Müssen wir daher vielleicht auch rechthaberischer werden, weil wir es uns gar nicht leisten können, dass unsere Entscheidungen und damit unser selbstbestimmter Lebensweg ständig infrage gestellt werden, von Anderen oder von uns selbst? Trainieren wir mit dem Entscheiden auch das Anführen von Gründen für unsere Entscheidung gegen kritische Einwände? Womöglich umso mehr, je unsicherer die Zeiten werden?
Wie gesagt, das ist erst einmal nur eine spekulative These, die ich natürlich im Verlauf der Diskussion hier hartnäckig verteidigen werde, da ich mich entschieden habe, sie zur Diskussion zu stellen.
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