Darüber, was psychisch „normal“ ist und was nicht, kann man wunderbar streiten. Auch hier auf Gesundheits-Check hatten wir schon darüber diskutiert, was psychische Störungen eigentlich sind. Dabei ging es unter anderem um die Willkürlichkeit der Diagnoseklassifikation im F-Kapitel der ICD.
Richtig virulent wurde der Streit, was noch normal ist und was schon nicht mehr, vor ein paar Jahren im Zusammenhang mit der neuen Version des amerikanischen Diagnosemanuals DSM V. Der für die vorherige DSM-Version IV federführende Wissenschaftler, Allen Frances, hat in seinem Buch „Normal“ vehement die Ausweitung der Diagnosen kritisiert. Er sieht die Normalität hinter immer neuen Krankheitsnamen und immer niedrigschwelligeren Diagnosenstellungen verschwinden. Das Paradebeispiel in den Medien war die Depression, die man sich als Diagnose nach DSM V jetzt schon nach zwei Wochen stärkerer Trauerreaktion einfangen kann, früher waren es immerhin zwei Monate. Waren hier menschenfreundliche Ärzte am Werk, die möglichst frühzeitig helfen wollen, oder die Pharmaindustrie, die den Kreis ihrer Kunden erweitern will? Oder beides in unguter Koalition?
Wie dem auch sei. Die Diskussion darüber, was „normal“ ist, ob es überhaupt „normale“ Menschen gibt, wer krankhaft „unnormal“ ist und wer außerdem „behandlungsbedürftig“, ob immer nur die Menschen unnormal sind oder manchmal auch eher die Umstände, wird anhalten. Einen Punkt will ich hier zur Diskussion stellen. Im Anhang der deutschen Taschenbuchausgabe des Buches von Allen Frances gibt es ein Nachwort von Geert Keil. Geert Keil ist Philosoph, lehrt in Berlin und hat – für Scienceblogsleser vielleicht von Interesse – u.a. ein schönes kleines Büchlein über die Willensfreiheit geschrieben („Willensfreiheit und Determinismus“, Stuttgart 2009). In seinem Nachwort veranschaulicht Keil die Probleme der Abgrenzung von normal und unnormal bzw. gesund und krank anhand der berühmten “Sorites-Paradoxie“. Dabei geht es darum, dass man z.B. sehr gut sagen kann, das ist ein Haufen Sand, und das sind nur noch ein paar Körner. Aber wo liegt die Grenze? Wenn man von einem Haufen Sand ein Korn wegnimmt, bleibt es ein Haufen Sand. Folglich auch, wenn man noch eins wegnimmt, und noch eins, und noch eins, bis es eindeutig kein Haufen mehr ist.
Das Problem ließe sich lösen, wenn man willkürlich festlegen würde, ein Haufen Sand müsse mindestens 1 kg schwer sein. Genau diese Willkürlichkeit beklagt Allen Frances bei den Diagnosekriterien. Ganz so willkürlich geht es beim DSM natürlich nicht zu, es wird schon die wissenschaftliche Literatur gesichtet, um vernünftige Schwellen zu definieren. Aber spiegelt die Soritesparadoxie das Problem überhaupt angemessen wider? Geht es hier um eine kontinuierliche Verschiebbarkeit der Zuschreibung einer Diagnose und sind die Zustände, unter denen die Menschen leiden, tatsächlich wie Sandkörner ganz klein granulierbar?
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