Fehler macht jeder. Wenn man Glück hat, sind es harmlose Fehler, Schreibfeler beispielsweise. Oft macht man aus Betriebsblindheit auch dumme Fehler: Man arbeitet mit zu wenig Sorgfalt etwas ab, weil es einfach scheint und übersieht etwas, was man eigentlich hätte sehen müssen. Und es gibt die hochnotpeinlichen Fehler, etwa wenn man im Brustton der Überzeugung etwas behauptet, das sich mühelos nachprüfbar als falsch herausstellt. Im Laufe meines Lebens habe ich alle Fehlerarten selbst ausprobiert, viele mehrfach. Ganz gemein sind die nach der Fehlerrelativitätstheorie unvermeidbaren Fehler: Man liest ein längeres Werk einmal, zweimal Korrektur, lässt es von anderen Leuten auch korrekturlesen, alles fein. Wenn es gedruckt ist, schlägt man es auf – und das Erste, was man sieht, ist ein Fehler. Wie gesagt, wenn man Glück hat, nur ein Schreibfeler. Ich bin inzwischen der festen Überzeugung, dass längere Texte unabhängig von der Häufigkeit und Sorgfalt des Korrekturlesens auf 100 Seiten je mindestens fünf Fehler enthalten. Das ist eine Form der Fehlerfortpflanzung, die wissenschaftlich noch weitgehend unerforscht ist.

Tröstlich ist, dass es allen Leuten so geht, siehe oben meinen ersten Satz. Vor kurzem hatten wir hier eine Überlegung aus dem Buch „Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“ von Allen Frances diskutiert. Thema des Buches ist – der Untertitel sagt es – die Kritik daran, dass Menschen immer leichter eine psychiatrische Diagnose erhalten, also zu viele Menschen unnötig als „krank“ erklärt werden. Auf Seite 161 kann man bei Frances Folgendes lesen:

„Anfang der Achtzigerjahre hatte etwa ein Drittel der Amerikaner die Diagnose einer lebenslangen psychischen Störung zu gewärtigen.47 Heute ist es bereits rund die Hälfte.48 Und mit über 40 Prozent holt Europa rasch auf.49 Manche halten diese Zahlen noch für untertrieben – akribischer angelegte Prospektivstudien veranschlagen die Prävalenz lebenslanger Störungen sogar auf das Doppelte. Wenn wir diesen einschätzungen Glauben schenken, dann ist unsere Bevölkerung, sind unsere Gesellschaften mit psychischen Störungen nahezu gesättigt.“

Hier liegt der Fall eines Fehlerteufels vor, der mitdenkt. Damit meine ich nicht, dass man „einschätzungen“ groß schreibt, das ist der harmlose Schreibfeler. Frances beklagt die Inflation der psychiatrischen Diagnosen und der Fehlerteufel lässt ihn boshafterweise selbst daran teilhaben. Dass die Hälfte der Bevölkerung eine „lebenslange“ psychische Störung haben soll, könnte einem schon komisch vorkommen. Aber letzte Satz im Zitat scheint das ja als bewusste Formulierung auszuweisen, deswegen liest sicher mancher darüber weg, zumal die Aussagen noch durch drei Literaturreferenzen belegt sind. Nur, wenn man die nachschlägt, springt einem der Fehlerteufel gleich aus den Überschriften entgegen. Es geht dort nämlich um „Lifetime Prevalence Rates“, um Lebenszeitprävalenzen. Damit ist gemeint, ob jemand zum Befragungszeitpunkt jemals (in seinem Leben) schon einmal eine psychische Störung hatte. Dieses Maß ist z.B. sinnvoll, wenn man wissen will, in welchem Umfang in der Bevölkerung Erfahrungen mit bestimmten Krankheiten vorliegen. Wenn man statt dessen beispielsweise 12-Monatsprävalenzen abfragt („wurde bei Ihnen in den letzten 12 Monaten eine psychische Störung festgestellt“), oder Punktprävalenzen („leiden Sie derzeit unter einer psychischen Störung“), dann erfasst man die aktuelle Krankheitslast in der Bevölkerung.

Dass die Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen hoch ist, ist zu erwarten. Als Kind eingenässt? ADHS gehabt? Stottern behandelt? Später vielleicht mal eine Phase mit zu viel Alkohol, was dem Arzt aufgefallen war? Da kommt schnell eine hohe Lebenszeitprävalenz zusammen, auch bei vielen später recht gesunden Menschen war eben irgendwann einmal irgendetwas. Eine „lebenslange“ psychische Störung hat man dagegen für immer.

Ich vermute, dass der Absatz im amerikanischen Original korrekt formuliert ist und nur die Übersetzerin im Bemühen, den sperrigen Begriff „Lebenszeitprävalenz“ zu vermeiden, zur besser lesbaren, aber sachlich falschen „lebenslangen“ psychischen Störung griff. An der Inflation des Ausmaßes psychischer Störungen waren in dem speziellen Fall wohl nicht übereifrige Psychiater schuld, sondern eine wohlmeinende Übersetzerin.

Kommentare (10)

  1. #1 Peter
    25. April 2017

    Netter Fehler … Ich bin kein Gesundheitswissenschaftler, aber Lebenszeitprävalenz hätte sogar mir was gesagt … So hatte ich den Absatz selbst nach dem zweiten Lesen nicht verstanden; erst durch die folgende Erklärung wurde er klar. Merke: Fachbegriffe werden nicht übersetzt … Körperlich krank wird eigentlich jeder mal in seinem Leben, insofern würde ich eine Lifetimeprävalenz von annähernd 100% bei psychischen Erkrankungen auch nicht sonderlich erschreckend finden. Irgendwas hat man doch immer: Niemand ist gesund. Nur noch nicht ausreichend untersucht 🙂

  2. #2 rolak
    26. April 2017

    Ich vermute

    Sehr entgegenkommend – doch nicht immer berechtigt: (teils ja) Letztens wurde ‘Goldilocks’ eindeutig nichtpassend mit ‘Schneewittchen’ synchronisiert, (teils nein) etwas später erzählt, Ferrofluide würden auf Schallwellen reagieren und bei Eisenmangel verordnet – auch im OTon und noch deutlich weiter daneben.

  3. #3 Marcus Anhäuser
    26. April 2017

    Prävalenz ist einfach ein Begriff, den man meiden sollte, weil ihn viele nicht verstehen. Was wäre denn eine passender, verständlicher Begriff, so es ihn denn gibt?

    • #4 Joseph Kuhn
      26. April 2017

      Häufigkeit.

  4. #5 Marcus Anhäuser
    26. April 2017

    Es könnte so einfach sein … das mit der Verständlichkeit.

  5. #6 Kassandra
    26. April 2017

    Auf Seite 161 kann man bei Frances Folgendes lesen:

    „Anfang der Achtzigerjahre hatte etwa ein Drittel der Amerikaner die Diagnose einer lebenslangen psychischen Störung zu gewärtigen.47 Heute ist es bereits rund die Hälfte.48 Und mit über 40 Prozent holt Europa rasch auf.49 Manche halten diese Zahlen noch für untertrieben – akribischer angelegte Prospektivstudien veranschlagen die Prävalenz lebenslanger Störungen sogar auf das Doppelte. Wenn wir diesen einschätzungen Glauben schenken, dann ist unsere Bevölkerung, sind unsere Gesellschaften mit psychischen Störungen nahezu gesättigt.“

    Hier liegt der Fall eines Fehlerteufels vor, der mitdenkt.

    Bis zum Beweis dafür, dass das im Original auch schon so stand, gehe ich von einem Übersetzungsfehler und damit einem nachträglich neu eingedrungenen Fehlerteufel aus. Die Übersetzerin hat Romanistik und Turkologie studiert, übersetzt überwiegend Romane (https://www.amazon.de/s?_encoding=UTF8&field-author=Barbara%20Schaden&search-alias=books-de), und in einer Terminologie, mit der man nicht vertraut ist, kann man schon mal danebenhauen. DuMont ist halt kein Fachverlag.

  6. #7 Kassandra
    26. April 2017

    Dass die Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen hoch ist, ist zu erwarten. Als Kind eingenässt? ADHS gehabt? Stottern behandelt? Später vielleicht mal eine Phase mit zu viel Alkohol, was dem Arzt aufgefallen war? Da kommt schnell eine hohe Lebenszeitprävalenz zusammen, auch bei vielen später recht gesunden Menschen war eben irgendwann einmal irgendetwas. Eine „lebenslange“ psychische Störung hat man dagegen für immer.

    Nach Lektüre dieses Artikels

    https://www.derbund.ch/wissen/medizin-und-psychologie/Ein-Kaempfer-wider-den-Diagnosewahn/story/29671448

    bin ich überzeugt davon, dass es Frances wirklich nicht um angebliche lebenslange psychische Störungen geht, denn davon ist in dem Bericht nicht die Rede.

    Es drohe eine «Hyperinflation» psychiatrischer Störungen wegen immer neuer Diagnosen und zunehmend weicherer Krankheitskriterien. Als Folge würden psychische Leiden «enorm überdiagnostiziert», während gleichzeitig wirklich psychisch Kranke keine Therapie erhielten. «Eine fürchterliche Fehlverteilung von Ressourcen», sagt der Psychiater.

    Ich kann dem Mann da durchaus folgen, denn ich habe das Gefühl, dass man mittlerweile bereits als behandlungsbedürftig gilt, wenn man gute Gründe hat, sich vorübergehend unwohl zu fühlen. Schüchternheit, Angst vor diesem und jenem, Trauer nach schmerzlichen Verlusten und solche Dinge, das ist aber alles normal und kann in der Regel (Ausnahmen gibt es natürlich) ohne Medikamente oder ärztliche Behandlung verarbeitet und damit bewältigt werden. Es ist nur in der heutigen Gesellschaft, in der jeder möglichst immer zu hundert Prozent funktionieren soll, anderen ein bisschen lästig. Ich sehe hier nicht nur das von Frances angesprochene Verteilungsproblem – denn man kann bei einer besonders weit ausgreifenden Auslegung von Krankheit dann unmöglich noch alle Kranken behandeln -, sondern auch, dass die zugehörigen Erfahrungen einer ganzen Gesellschaft zunehmend abhanden kommen, wenn die eigenständige Bewältigung schmerzlicher Erfahrungen in ihr nicht mehr der angestrebte Normalfall ist.

    Was bei mir immer besonders ungute Gefühle auslöst, sind die psychologischen Betreuer, die sich nach jedem Unglücksfall geradezu auf die Überlebenden zu stürzen scheinen. Das geht nämlich so weit, dass sich Leute, die solche Hilfe nicht in Anspruch nehmen möchten, sich dafür rechtfertigen müssen und schlimmstenfalls länger anhaltender Drangsalierung ausgesetzt sind.

    Wer ein schreckliches Erlebnis nicht alleine bewältigen kann, der braucht natürlich Hilfe. Aber die Helfer scheinen immer weniger dazu bereit zu sein, denen, die glauben, bei der Bewältigung keine Hilfe zu brauchen, wenigstens einen Versuch zugestehen zu wollen. Und das hat so viel mehr von übergriffiger Aggression als von Hilfsbereitschaft, dass es mir schwerfällt, Hilfsbereitschaft für das dahinterstehende Motiv zu halten.

  7. #8 user unknown
    https://demystifikation.wordpress.com/2017/04/25/bis-zu-vertrag/
    26. April 2017

    “… dann ist unsere Bevölkerung, sind unsere Gesellschaften mit psychischen Störungen nahezu gesättigt.”

    Außerdem würde das nur stimmen, wenn jede Person maximal eine psychische Erkrankung haben könnte. Wenn aber 10-20 Störungen gleichzeitig möglich sind, dann wäre die Sättigung selbst dann noch lange nicht erreicht, wenn die Fehldeutung dessen, was Prävalenz bedeutet, nicht noch dazu käme.

    • #9 Joseph Kuhn
      26. April 2017

      @ user unknown:

      In der Tat, so gesehen, wäre der “Topf” auch bei 100 % Prävalenz noch nicht voll.

  8. […] nebenbei, weil wir hier vor kurzem das Thema „Fehler“ hatten: Dem Lektorat ist auf Seite 45 ein Flüchtigkeitsfehler bei der Berechnung des „positiven […]