Bei den Scilogs gibt es einen aktuellen Beitrag von Michael Blume über „Serendipität“ als Erfolgsrezept Helmut Kohls. „Serendipität“ scheint Blume als eine Art Kunst der Gelassenheit zu verstehen, auf den rechten Augenblick zu warten, passende „Gelegenheiten“ zu nutzen.
Mir kommt eine solche Fähigkeit, ähnlich wie politischer Machtwille, erst einmal vor wie eine machiavellistische Sekundärtugend. Müsste man nicht weiterfragen, um welche „Gelegenheiten“ es geht, um „Gelegenheiten“ für was?
Kohl ist gerade gestorben. Für viele Menschen ist dies ein Moment, in dem sie Pietät dem Toten gegenüber erwarten. De mortuis nil nisi bene. Ich will das respektieren. Aber ich denke, man ist Helmut Kohl gegenüber nicht pietätlos, wenn man anmahnt, ihn auch nicht in einem falschen Licht erscheinen zu lassen. Deshalb drei kurze Anmerkungen:
1. Man ehrt Helmut Kohl – unter anderem – als „Vater der Einheit“. Das war er. Der Vater der Freiheit Ostdeutschlands war aber er nicht, das waren die DDR-Bürger, die ihren Sinn für eine „Gelegenheit“ zur Befreiung vom DDR-Regime genutzt haben. War das nicht die wichtigere „Gelegenheit“?
2. Auf dem Weg zu den versprochenen „blühenden Landschaften“ im Osten sind Kohl viele „Gelegenheiten“ entgangen, und angesichts der Geschichte der Treuhand muss man fragen, ob er sie immer im Sinne der Menschen in Ostdeutschland nutzen wollte. Für eine Mark gab es damals für die westdeutsche Industrie ganze Unternehmen, günstige Gelegenheiten sozusagen, Schnäppchen, danach für die „Ossis“ ganze Jobs für einen Euro. Sachzwänge, sicher, auch, aber wurden alle „Gelegenheiten“ genutzt, es besser zu machen?
3. Gesellschaftspolitisch hat Helmut Kohl eine “geistig moralische Wende” propagiert. Im Zuge dieser Wende wurde den Deutschen – darin ist er dem von Helmut Schmidt vorgebahnten Weg gefolgt – madig gemacht, was an emanzipatorisch-zivilgesellschaftlicher Phantasie von den Versprechungen Brandts noch übrig war: dass Politik mehr ist als Macht, Erfolg und Geld (“Wir wollen mehr Demokratie wagen”). Das war damals internationaler Zeitgeist, keine Frage, aber nach Gelegenheiten, dem etwas entgegenzusetzen, hat Helmut Kohl nicht gesucht. Im Gegenteil, solche Suchbewegungen hat er mit Sprüchen wie dem, dass sich eine erfolgreiche Industrienation nicht als kollektiver Freizeitpark organisieren lässt, regelrecht denunziert.
Welche „Gelegenheiten“ hat er also genutzt, welche nicht? Und ist Helmut Kohl damit den Ansprüchen an eine „christliche“ Politik gerecht geworden? Eine Frage, die sich nebenan Ernst Peter Fischer auch gerade stellt. Der Religionswissenschaftler Blume hätte ebenfalls danach fragen dürfen, ohne pietätlos zu erscheinen. Über Grundorientierungen in der Politik wird im Bundestagswahlkampf ohnehin zu wenig gestritten, weil angeblich alle nur unser Bestes wollen.
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