Seit ein paar Tagen sorgt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) für einige Aufregung in den Medien, der Behördenwelt und der Wissenschaft: Im Falle eines inzwischen verstorbenen Mannes wurde (indirekt) ein Anspruch auf Schadensersatz für eine Hepatitis B-Impfung anerkannt, die zu einer Multiplen Sklerose geführt haben soll, obwohl es dafür keinen wissenschaftlichen Nachweis gibt.
Vermutlich hat die Aufregung um dieses Urteil auch damit zu tun, dass man sich gut vorstellen kann, was Impfgegner möglicherweise phantasievoll aus dem Urteil machen: „Höchstes Gericht bestätigt, dass Hepatitis B-Impfung Multiple Sklerose verursacht.“ Man muss sich nur vor Augen halten, wie der seltsame Guru der Impfgegnerszene Stefan Lanka das Urteil zur Frage eines Nachweises der Existenz des Masernvirus interpretiert. Lanka hatte leichtsinnerweise 100.000 Euro ausgelobt, falls ihm jemand eine Publikation zeige, die Existenz und Größe des Masernvirus nachweise. Der Arzt David Bardens nahm das Angebot an und forderte unter Hinweis auf die uralten ersten diesbezüglichen Publikationen das Preisgeld ein. In der Erstinstanz bekam er Recht, dann ging es durch die Instanzen, bis am Ende auch der Bundesgerichtshof einer innovativen Lesart von Lanka folgte: Es sei darum gegangen, dass der geforderte Nachweis in einer, sprich einer einzigen, Publikation zu belegen sei. Inhaltlich völlig paradox, aber juristisch erfolgreich. Das Gericht entschied, es obliege Lanka, wie sein Ausschreibungstext zu verstehen sei. Keinesfalls hat das Gericht bezweifelt, dass die Existenz des Masernvirus nachgewiesen sei. Genau das behauptet Lanka aber nun.
Wiederholt sich diese Geschichte jetzt mit etwas veränderten Zutaten? Viele sehen mit dem Urteil des EuGH Tür und Tor für haltlose Behauptungen über Impfschäden geöffnet. Es lohnt sich, wie im Falle Lanka das Urteil einmal genauer anzusehen.
Worum ging es?
Auch hier ging der Rechtsstreit durch mehrere Instanzen, bis ein französischer Kassationsgerichtshof sich entschied, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob das europäische Produkthaftungsrecht den französischen Regeln zur Beweisführung beim Tatsachengericht (der Erstinstanz) entgegenstünde. Dabei ging es darum, ob „das Tatsachengericht in Ausübung seiner Befugnis zur Beweiswürdigung feststellen kann, dass die Tatsachen, die der Kläger geltend macht, ernsthafte, klare und übereinstimmende Vermutungen begründen, die den Fehler des Impfstoffs und den ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem und der Krankheit beweisen, ungeachtet der Feststellung, dass die medizinische Forschung keinen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Auftreten der Krankheit herstellt“.
Hier ist der Passus mit den „ernsthaften, klaren und übereinstimmenden Vermutungen“ wichtig, der Bezug zur medizinischen Forschung und der Bezug zu den Befugnissen des Tatsachengerichts.
Was hat der EuGH entschieden? Und was nicht?
Das EuGH hat zunächst einmal darüber befunden, wie nationale und europäische Rechtsnormen zusammenpassen und dabei den nationalen Gerichten einerseits einen gewissen Spielraum zugestanden, was ihre bisherige Praxis angeht, zum anderen auf eine Harmonisierung des Rechts hinorientiert, was die Beweislast und die Haftung angeht. Die Beweislast bleibt nämlich ausdrücklich beim Geschädigten.
Mitnichten besagt das Urteil, dass jeder behaupten kann was er will und dann entschädigt werden muss. Der EuGH sieht als übergeordnete Richtschnur die Notwendigkeit einer „gerechten Verteilung der Risiken zwischen dem Geschädigten und dem Hersteller“ und will die Beweislast für den (möglicherweise) Geschädigten nicht so hoch setzen, dass dieser zwingend einen wasserdichten wissenschaftlichen Nachweis führen muss. Das wird oft nicht möglich sein. Daher sieht der EuGH die Beweisführung des französischen Gerichts anhand „ernsthafter, klarer und übereinstimmender Vermutungen“ als zulässig an. Es sei nicht erforderlich, „dass der Geschädigte unter allen Umständen sichere und unwiderlegbare Beweise für das Vorliegen des Fehlers des Produkts und für den ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem Fehler und dem erlittenen Schaden beibringt“, sondern die Beweisführung nach nationalen Regeln sei zulässig, wenn „das Gericht gegebenenfalls auf das Vorliegen des Fehlers und des ursächlichen Zusammenhangs schließen kann, indem es sich auf ein Bündel von Indizien stützt, deren Ernsthaftigkeit, Klarheit und Übereinstimmung es ihm erlauben, mit einem hinreichend hohen Grad an Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Schlussfolgerung der Wirklichkeit entspricht.“
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