Gestern war ich bei einer Buchvorstellung über die Ärzte in Bayern zur Zeit des Nationalsozialismus (Annette Eberle: Die Ärzteschaft in Bayern und die Praxis der Medizin im Nationalsozialismus, Metropol-Verlag 2017). Die Buchvorstellung fand in Form einer Podiumsdiskussion im NS-Dokumentationszentrum in München statt. Eine der – zu Recht – bei solchen Anlässen immer gestellten Fragen war die, was man aus den Ereignissen damals lernen kann. Das traditionelle ärztliche Ethos ist eigentlich darauf ausgerichtet, dem einzelnen, leidenden Menschen zu helfen. Im Nationalsozialismus haben die Ärzte die Reinheit des Volkskörpers über den Einzelnen und dessen Leben gestellt. Unser Grundgesetz hat daraus gelernt, die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist seine oberste Maxime.
Ebenfalls gestern kam in der ARD ein Fernsehbeitrag „Komplizen? VW und die brasilianische Militärdiktatur“. Es ging darin um die Aufarbeitung der Zusammenarbeit des Werkschutzes von VW Brasilien mit der politischen Polizei der Militärdiktatur in Brasilien von 1964 bis 1985. Politisch Verdächtige wurden, so der Filmbeitrag, vom Werkschutz bespitzelt, denunziert und von der politischen Polizei direkt im Werk verhaftet und in ein nahegelegenes Folterzentrum gebracht. Einige haben nicht überlebt. VW hat offensichtlich nicht nur bei seinen Dieselmotoren Erfahrung mit unfeinen Abschalteinrichtungen.
Im Film gab es auch Ausschnitte eines Interviews mit dem früheren VW-Chef Carl Hahn. Er räumte relativ freizügig ein, sie seien bei VW „keine Kommunisten“ gewesen und man habe gemeinsame Interessen mit den Militärs gehabt. Die Aufarbeitung der Verantwortung von VW war für ihn sichtlich kein relevantes Thema: Deutschland sei ein Land, das sich zu viel mit seiner Vergangenheit beschäftigt, man habe doch andere Probleme. Auch die Rolle des KZ-Massenmörders Franz Stangl beim Aufbau des VW-Werkschutzes in Brasilien war ihm nur die Bemerkung wert, dass man doch nicht die Namen aller KZ-Leute gekannt habe. Eine heutzutage ungewöhnlich offen zu Tage getragene menschenverachtende Ignoranz. Der Konzern selbst äußert sich zurückhaltender, scheint aber der brasilianischen Staatsanwaltschaft zufolge ebenfalls nicht sehr kooperativ zu sein.
Auch VW könnte aus der Zeit des Nationalsozialismus lernen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, auch die ihrer brasilianischen Arbeiter, und dass auch der mit den brasilianischen Militärs geteilte Antikommunismus nicht rechtfertigt, die Arbeiter der Folter auszuliefern. Aber das Lernen aus der Vergangenheit ist so eine Sache. Unsere Erinnerungskultur in Sachen Nationalsozialismus ist eigenartig historisiert, geradezu sterilisiert. Man dürfe nicht bei allem die „Nazi-Keule“ rausholen, sagen die einen, und die anderen, Vergleiche mit damals relativierten die Verbrechen der Nazis. Haben wir unsere Erinnerungskultur in einem Scheuklappenblick zurück entsorgt?
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