Erinnern Sie sich noch an die seltsame Frage von Sandra Maischberger beim „Duell“ von Merkel und Schulz: „Waren Sie am Sonntag in der Kirche?“
Merkel antwortete zunächst, sie sei heute nicht in der Kirche gewesen, der Tagesspiegel meint, dabei habe sie gewirkt wie eine ertappte Sünderin. Schulz sagte, er sei in der Friedhofskapelle in Sacrow bei Potsdam gewesen, als er das Grab seines Freundes Frank Schirrmacher besucht habe. Schulz betont ja gerne, wer alles sein Freund ist. Ich frage mich langsam, ob er keine Freunde hat, aber gerne welche hätte. Gut, das tut hier nichts zur Sache. Merkel konnte den Schulzschen Kapellengang natürlich nicht stehen lassen: Am Tag zuvor sei sie in einer kleinen Kirche gewesen, die ihr Vater aufgebaut hätte, anlässlich dessen Todestages. Schulz fasst zusammen, dass sie also beide im stillen Kämmerlein gebetet hätten.
Keiner der beiden hat zurückgefragt, welche Bedeutung Maischberger dieser Frage für die Zukunft Deutschlands zumisst, ob es nicht wichtiger sei, wie man die 20-jährige Einkommensstagnation der unteren 40 % der Bevölkerung beheben könne, ohne die Beschäftigung zu gefährden, oder wie man die vielerorts steigenden Mietkosten den Griff bekommen könne, oder die starke Selektivität des deutschen Bildungssystems. Und Maischberger wäre richtig gut gewesen, wenn sie nachgefragt hätte, ob das nicht die wichtigeren Fragen seien, damit hätte sie vermutlich beide aus dem Konzept des langweiligen Vorsichhinbrabbelns gebracht. So hatte sie Glück, dass sie nicht gefragt wurde, ob sie denn in der Kirche war, beispielsweise um den Bestand des heiligen Geistes für die Moderation des Duells zu erbitten. Der wurde ersichtlich nicht gewährt, vielleicht mangels eines solchen Geistes.
Heute gibt es im SPIEGEL (38/2017) unter der Überschrift „Eine unheimliche Stille“ Auszüge aus den letzten beiden SPIEGEL-Interviews mit dem eben verstorbenen Heiner Geißler, ganz früher Jesuitenschüler, dann ein böser Polemiker, aber auch ein innovativer Sozialpolitiker der CDU, später ein nachdenklicher und mahnender Humanist.
„Spiegel: Haben Sie einmal für eine Wahlsieg gebetet?
Geißler: Nein, niemals. Ich bete überhaupt nicht.
Spiegel: Schon immer?
Geißler: Mein Glaube hat riesige Löcher und Zweifel bekommen. Ich glaube auf jeden Fall nicht an den Gott der evangelischen oder katholischen Theologie.
Spiegel: Der, von dem in der Bibel die Rede ist?
Geißler: Ja, dieser. Ein Gott, der geliebt werden will und deswegen den Menschen den freien Willen gegeben hat. Und der dann in Kauf nimmt, dass es Auschwitz gibt? In diesem Moment, in dem wir reden, verhungern zehntausende Leute, werden vergewaltigt, gefoltert, geschlagen. Und das nicht nur in dieser Sekunde, sondern seit zehntausenden Jahren in jeder Sekunde. Da muss man sich doch fragen: Wo ist er? Sieht er noch, was hier los ist? Warum versteckt er sich? Seit zehntausenden Jahren hat sich Gott nicht gezeigt und lässt uns allein. Das kann alles nicht stimmen.“
Man stelle sich vor, Merkel oder Schulz hätten das gesagt. Und dann, dass die Welt zurzeit ernste Probleme hat, bei denen sich nicht zuerst die Frage nach dem sonntäglichen Kirchgang stellt. Stattdessen kam es, wie es kam.
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