Marx war noch davon überzeugt, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt und dass es darauf ankommt, die Welt zu verändern. Irgendwie stimmt das sicher, aber die Dinge sind kompliziert. Wir erleben gerade eine Zeit, in der sich die alten, an den sozialen Lagen orientierten politischen Scheidelinien immer mehr aufzulösen scheinen. Die Besserverdiener wählen nicht mehr nur FDP und CDU, sondern gerne auch grün, die Arbeiter und kleinen Angestellten samt ihrer weiblichen Existenzformen sind mehrheitlich bei der Union, viele Arbeitslose fühlen sich eher bei der AfD als bei der SPD aufgehoben und sogar die SPD hat noch ein paar Wähler, und –innen, die auch woanders sein könnten.
Wenn sich aber nicht mehr so einfach am sozialen Sein festmachen lässt, welcher Partei sich die Leute zuwenden, was könnte dann den Ausschlag geben? Vor ein paar Tagen hatten wir hier über Alexander Dobrindts „konservative Revolution“ diskutiert und darüber, dass er in einem Interview mit Marietta Slomka als Moment des Notwendigen dafür nichts außer einem „Gefühl“ vorzubringen wusste. Darüber kann man sich mokieren. Man kann es aber auch zum Anlass nehmen, über das Gefühl als politisches Faktum nachzudenken. Dobrindt ist gelernter Soziologe, also Gesellschaftswissenschaftler. Vielleicht reflektieren seine Sprüche mehr gesellschaftliche Realität, als es zunächst scheint. Nicht in dem Sinne, dass Dobrindt, bevor er gesprochen hat, reflektiert hätte, wie die gesellschaftlichen Realitäten sind, aber in dem Sinne, dass sich in seiner Rede diese gesellschaftlichen Realitäten reflektieren.
Dass Parteienpräfenzen heute viel mit „Gefühl“ zu tun haben, hat auch die Diskussion hier im Blog zur konservativen Revolution gezeigt, als es um die letztlich gefühlsmäßigen Zuordnungen von „bürgerlich“, „konservativ“ oder „links“ ging. Der Prenzlauer Berg gilt in der Dobrindtschen Gefühlssoziologie als „links“, egal wie gutbürgerlich die Leute dort leben. Von den traditionslinken Ex-SED-Milieus im Osten ganz abgesehen. Sofern sie nicht zwischenzeitlich zur AfD übergelaufen sind, gelten auch sie als „links“, obwohl sie oft so kleinbürgerlich leben wie einst Alfred Tetzlaff und die Seinen bei „Ein Herz und eine Seele“. Die AfD will dagegen „bürgerlich“ sein und den Menschen das Gefühl wiedergeben, eine Heimat zu haben, zumindest den Menschen, die schon immer hier waren und nicht „links“ sind, und dass auf Familie, Volk und Vaterland noch Verlass ist. Das „Gefühl“ ist wichtig. Dass man dafür den Beschäftigten z.B. im Parteiprogramm fast versprochen hätte, dass sie künftig die Kosten für die Unternehmerhaftpflicht bezahlen sollen, darauf kommt es dann nicht an. Das Parteiprogramm muss eben zum Gefühl passen.
Die Politik des Gefühls bemisst sich an Zugehörigkeitsduftmarken. Muss „68“ nicht wirklich überwunden werden, egal was man damit meint? Haben Sie auch das Gefühl, mit dem „Genderismus“ muss endlich Schluss sein? Bevor Ihre Frau auch noch beim Fußball mitreden will. Oder dass die Bürgerversicherung von der Freiheit in den Sozialismus führt? Fühlen Sie sich auch so „überfremdet“, auch da, wo die Pegida marschiert ist und keine Fremden sind? Oder soll Deutschland „weltoffen“ sein? Bunt und „multikulturell“? Wie in den Clan-Revieren Neuköllns? Und fühlst Du Dich auch so abgehängt? I am your voice. Dafür gib mir bei der Wahl Deine Stimme.
Ich glaube, die Zugehörigkeitsgefühligkeit spiegelt im Parteipolitischen eine Entwicklung wider, die der französische Soziologe Pierre Bourdieu für das gesellschaftliche Bewusstsein schon vor fast 40 Jahren herausgearbeitet hat: dass sich gesellschaftliche Differenzierungen immer mehr an „feinen Unterschieden“ festmachen und demgegenüber die grobschlächtige „Klassenlage“, das Differenzierungsmerkmal der alten Marxisten, zurücktritt. Zumindest im Gefühl der Leute, und darauf kommt es doch an, oder? Mit den „feinen Unterschieden“ machen Gefühlspolitiker Politik. Nicht dass ich Dobrindt deswegen für einen deutschen Bourdieu halte, aber der Zeitgeist spricht aus ihm. Ich habe ja eher das Gefühl, die Politik müsste wieder mehr darauf achten, was die Leute wirklich brauchen: bezahlbaren Wohnraum, Jobs mit Perspektiven, auskömmliche Löhne und ein friedfertiges Miteinander. Für möglichst viele, für ein Land, in dem alle gut und gerne leben. Das sehe ich bei der neuen GroKo bisher nicht.
Kommentare (112)