Seit einigen Jahren kann man beobachten, wie die vielzitierten „Werte des Westens“ an Bindekraft verlieren, sowohl ideologisch im Hinblick auf das Selbstverständnis der westlichen Gesellschaften als auch real im Umgang mit humanitären Problemen.
Dass der Mensch im Naturzustand des Menschen Wolf sei und daher die Gesellschaft das Unmenschliche des Menschen bändigen müsse, ist zwar eher eine Fiktion denn eine evolutionstheoretisch und historisch begründete Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft, aber richtig ist, dass uns erst der gesellschaftliche Fortschritt aus den Zwängen der Natur befreit hat, unsere Möglichkeiten erweitert hat, so zu leben, wie wir leben wollen, sichtbar gemacht hat, was erreichbar wäre.
Wir leben bekanntlich in einer Ordnung, die gemeinhin „Kapitalismus“ genannt wird. Die Einen werten das positiv, weil sie ohne die Triebkräfte des Gewinnstrebens keine Fortschrittsperspektive sehen, die Anderen negativ, weil sie die oft brachiale Indienstnahme der Menschen für die Kapitalverwertung als würdelos betrachten.
Manche meinen, daher müsse der Kapitalismus überwunden werden. Die Frage ist, wie und wohin. Schließlich hat der real existierende Sozialismus als Gegenmodell in keiner Weise zu einer Befreiung des Menschen geführt, sondern nur zu einer ideologisch verbrämten Herrschaft von Parteikadern und Bürokraten. Wenn man sich die SED-Granden noch einmal vor Augen führt und ihr Leben in Wandlitz, kann man das nur als Rache des Kleinbürgertums an der sozialistischen Idee sehen.
Manche meinen, man müsse einen Ordnungsrahmen für den Kapitalismus schaffen, der ihm Grenzen zieht, ihn in humane Bahnen lenkt, seine Produktivkräfte zur Entfaltung kommen lässt, aber verhindert, dass die Menschen im Dienste der Kapitalverwertung ausgebeutet werden und sich als Knechte der besitzenden Eliten fühlen. Das war u.a. der Ansatz des Ordoliberalismus in Westdeutschland nach dem Krieg.
Wieder andere meinen, alles „Soziale“ sei nur ein Hindernis auf dem Weg zum Reichtum für alle, man müsse die Wirtschaft von allen Fesseln befreien, deregulieren, allen Dingen einen Preis geben, Jeden gegen Jedermann in Wettbewerb bringen. Das war der Neoliberalismus Hayekscher Prägung, der sich seit den 1980er Jahren als hegemoniales Denken in den westlichen Gesellschaften durchgesetzt hat, begleitet von Polemiken, wir würden doch fast schon im Sozialismus leben, mit zu hohen Steuern, zu vielen Umweltvorschriften, zu viel Arbeitsschutz, zu viel Kündigungsschutz, zu viel Sozialleistungen.
Irgendwas hat da aber nicht funktioniert. Es sind nicht alle reich geworden. Seit geraumer Zeit knirscht es hörbar im Gebälk der westlichen Gesellschaften, immer mehr Leute fühlen sich abgehängt, suchen nach Sündenböcken, wollen nicht mehr solidarisch sein und das schlägt nun auch auf das Miteinander der Staaten durch. Selbst der mächtigste Staat der Welt, die USA, fühlt sich von den anderen ausgebeutet und will nur noch für sich selbst sorgen. America first. Im kleinen Bayern ruft Söder das Ende des „geordneten Mulitlateralismus“ aus. Bayern first. Der italienische Innenminister will nur noch Italienern helfen und Orban zäunt sein Land ein, als wolle er die Methoden des Ostblocks übernehmen. Grenzen dicht. Die Unruhe der Welt soll draußen bleiben.
„Weltende“ heißt ein Gedicht von Jakob van Hoddis aus dem Jahr 1911, mit dem er eine damals verbreitete Grundstimmung der Angst ausdrücken wollte.
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Das neoliberale Dogma, jeder für sich, ist auf der Systemebene angekommen und zersetzt die neoliberale Ordnung von oben. Fast möchte man meinen, der Kulturpessimist Oswald Spengler habe nicht ganz Unrecht. Wikipedia beschreibt seine Zukunftsvision so:
“Der Kapitalismus aber unterhöhle die Gesellschaftsstruktur und wende sich letzten Endes gegen seine eigenen Grundlagen der freiheitlichen Verfassung. Dadurch gehe die Herrschaft des Dritten Standes schließlich auf die des Vierten Standes, der formlosen Masse der Weltstädte, über, genauer gesagt auf diejenigen, die diese Zivilisationsmassen als Dompteure in den Dienst ihrer eigenen Machtabsichten nehmen können. Das Resultat sei der Verfall der Demokratie und die anbrechende Herrschaft der Demagogen und Diktatoren.”
Spengler war Geschichtsmetaphysiker, er meinte, eine Art Naturgesetz von Wachstum und Sterben der Gesellschaften zu erkennen. Nach seiner Auffassung war jede Gesellschaftsform dem Untergang geweiht. Geschichte aber wird von Menschen gemacht. Was machen wir also daraus?
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