Chemnitz und München
Nach den „Trauermärschen“ in Chemnitz und dem dort offen praktizierten Schulterschluss zwischen Wutbürgern, AfD, Pegida und Rechtsradikalen schlugen die Wellen der Gesellschaftsdiagnostik im Feuilleton und den Talkshows wieder einmal hoch. Als sichtbares Symbol der Besorgnis des politischen Establishments musste der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz infolge seiner obskuren Äußerungen und einer daran anschließenden langen philologischen Analyse des Begriffs „Hetzjagd“ zum Sonderberater von Innenminister Seehofer mutieren. Witzbolde der anderen Art haben gesagt, Chemnitz zeige, wie wichtig der „Antifaschistische Schutzwall“ war, nur die Richtung der Abwehr sei falsch gewesen. Auch Witze können Zeitgeist transportieren, hier die Idee, dass Mauern Probleme lösen. Gar nicht so weit weg vom Denken der Festung Europa. Dabei hat der Osten den Rechtsradikalismus gewiss nicht erfunden, der ostdeutsche NSU auch nicht den rechtsradikalen Terror, siehe das Oktoberfestattentat 1980 in München und die ostdeutsche Politik nicht der Herunterspielen solcher Probleme. Das Oktoberfestattentat musste bekanntlich um jeden Preis die Tat eines Einzeltäters sein, selbst wenn man eine abgerissene Hand zu viel hatte. Seit 2014 wird wieder ermittelt. Dessen ungeachtet, ist ein antifaschistischer Schutzwall natürlich immer gut, vor allem in den Köpfen.
Die Ostdeutschen und der Rest der Welt
Aber das nur zur Einstimmung. In der aktuellen Ausgabe 10/2018 der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ ist ein Aufsatz der sächsischen Ministerin für Gleichstellung und Integration, Petra Köpping. Unter dem Titel „Ostdeutschland oder Das große Beschweigen“ denkt sie darüber nach, warum sich gerade so viele Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse fühlen. Sie macht es an einer Bemerkung eines Demonstranten fest: „Sie immer mit Ihren Flüchtlingen! Integriert doch erst mal uns!“
Köpping macht darauf aufmerksam, dass der Demonstrant nicht nur sein Gefühl anspricht, nicht gesehen zu werden, sondern auch, dass er eine passive Erwartungshaltung ausdrückt: „Man will sich nicht selbst integrieren, man will integriert werden.“ Diese Erwartungshaltung bringt sie mit der Sozialisation vieler in der DDR aufgewachsener Menschen in Verbindung. Der SED-Staat wollte keine politische Mitsprache der Bürger, er war demzufolge selbst für alles zuständig und zugleich auch an allem schuld. Daraus sei eine Zurückhaltung in Sachen politischer Mitwirkung zurückgeblieben, mit gleichzeitiger Bereitschaft, bei Problemen gleich das System an sich infrage zu stellen. Das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, münde hier wie auch andernorts leicht in einen Identitätsdiskurs mit dem Anspruch auf moralische Überlegenheit. Sie zitiert dazu eine Stimme aus einem ganz anderen Land, aus Indien, Pankaj Mishra: „Oft reagieren solche Gesellschaften damit, dass sie sagen: Unsere Eroberer mögen mehr Macht, Geld und Ressourcen haben, aber wir sind moralisch und kulturell überlegen.“
Dass übermächtige Umwälzungen der Lebensverhältnisse viele Menschen mit Verlustgefühlen zurücklassen, mit dem Gefühl, die eigene Lebensleistung würde nicht mehr anerkannt, ist keine Besonderheit derer, die in der DDR aufgewachsen sind. Und dort auch nicht nur derer, die die Wende selbst bewusst erlebt haben. Köpping zitiert den bulgarischen Politikwissenschaftler Ivan Krastev: „Erst die zweite Generation [entdeckt] die Grenzen: die Glasdecke zum Beispiel, die ihr den Aufstieg verwehrt; man beginnt, einen romantischen Blick zurückzuwerfen und über die eigene Identität nachzudenken. Das ist überall in Osteuropa geschehen (…).“ Wem fällt hier nicht die zweite und dritte Generation derer mit türkischem Migrationshintergrund ein? Egal wie gut das Abitur ist, zu viel „ü“ im Nachnamen behindert die Berufschancen, wie Studien immer wieder zeigen. Für Vornamen wie Kevin oder Chantal gilt das übrigens auch.
Gesellschaftliche Verluste
Was tun? Köpping fordert die Ostdeutschen auf, sich einzumischen. Und sie erinnert daran, dass der Wandel von einem System, in dem der Staat für alles sorgt, im Guten wie im Schlechten, zu einem System, in dem jeder für selbst sorgen muss, und im besten Fall auch kann, ja auch nicht nur positiv zu werten sei, sondern zugleich ein Verlust an echter Gemeinschaft ist, wenngleich im speziellen Fall DDR häufig nur einer Notgemeinschaft des sich gegenseitig Helfens in einer Mangelwirtschaft.
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