Aber da sollte man eigentlich schon beim Wörtchen „nur“ vorsichtig sein. Denn hier scheint mir ein Kernproblem unserer gegenwärtigen Situation berührt zu sein. Auch das von Petra Köpping eher kritisch kommentierte passive Element in dem Satz „integriert doch erst mal uns“ beinhaltet nämlich jene ja durchaus berechtigte Erwartungshaltung, nicht allein für alles sorgen zu müssen. Mit der neoliberalen Eigenverantwortungsgesellschaft ging etwas verloren, was Rechtspopulisten heute durch das Nationale oder das Volk ersetzen wollen: eine Gemeinschaftsperspektive der gesellschaftlichen Entwicklung, nachdem die Versprechen Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ oder Willy Brandts „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ ihre Bindekraft verloren zu haben scheinen. Stattdessen ist, anders als viele Beobachter des Zeitgeschehens meinen, vielleicht doch mehr an der These Francis Fukuyamas vom „Ende der Geschichte“, als es die sicher geschichtsmächtigen aktuellen politischen Ereignisse, sei es der Syrienkrieg, der Brexit oder Russlands Streben nach neuer Größe, vermuten lassen.
Kann es sein, dass uns gemeinschaftsstiftende Zukunftsperspektiven abhanden gekommen sind? Dass wir gar nicht wissen, was wir gemeinsam erreichen wollen, wie die Zukunft des Miteinanders aussehen soll? Erwarten wir von der Politik überhaupt noch mehr als die mehr oder weniger kompetente Verwaltung von Problemen, und dass dann jeder für sich daraus das Beste machen muss? Selbstoptimierung als Maxime, das eigene Sozialkapital mehren, sich fit machen, um Chancen wahrzunehmen und zu nutzen?
Wohin?
Aber wie könnte die Alternative aussehen? Einen Staat, der uns vorgibt, was ein „gutes Leben“ ist, wollen wir nicht. Höchstens als Leitkultur für die Fremden. Es reicht schon, wenn uns der Staat sagt, was für unsere Gesundheit gut ist. Nur: Wenn man uns dazu anhält, weniger zu rauchen, uns gesünder ernähren und mehr zu bewegen, sinnstiftend ist das nicht. Eher nervt es auf die Dauer. „Kultur“ entsteht anders. Wolfgang Böckenförde hatte schon Recht, der freiheitliche Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht selbst herstellen kann. Da helfen auch keine Kreuze in Behördeneingängen. Und Verschwörungstheorien mögen für manche Leute eine Zeitlang geheimen Sinn hinter den alltäglichen Ereignissen simulieren, aber eine echte Perspektive ist das auch nicht. Wo stehen wir also? Im Feuilleton ist immer wieder einmal von der „metaphysischen Obdachlosigkeit“ als Signatur unserer Zeit die Rede. Neu ist das zwar auch nicht, schon Nietzsche sah im Nihilismus die große geistige Herausforderung der Zukunft. Aber vielleicht ist sie jetzt da, vielleicht ist es neu, dass es jetzt so viele Menschen in unterschiedlichen Ländern und mit unterschiedlichen Traditionen spüren?
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Zum Weiterlesen:
• Petra Köpping: Ostdeutschland oder Das große Beschweigen. Wie die Fehler der Nachwendezeit unsere Demokratie vergiften. Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/2018: 41-51.
• Heinrich Geiselberger (Hrsg.): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Frankfurt 2017.
• Wendy Brown: Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört. Frankfurt 2018.
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