Psychische Störungen sind einerseits Allerweltskrankheiten: Studien gehen davon aus, dass ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung im Laufe eines Jahres an einer solchen Störung leidet, im Laufe des Lebens ist jeder Zweite betroffen. Andererseits gibt es gegenüber Menschen mit einer psychischen Störung häufig ein Unbehagen und oft auch handfeste Vorbehalte. Auch mehr als 200 Jahre nach der „Befreiung“ der psychisch Kranken durch Pinel haftet den psychischen Störungen das Stigma des „Verrücktseins“, der „Geistesgestörtheit“, an. Die Betroffenen werden häufig misstrauisch beäugt, ob sie irgendwie seltsam sind, oder gar gewalttätig. Für sie gibt es mit den „Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzen“ Sondergesetze, die zu einem nicht geringen Teil aus Vorschriften über die Zwangsunterbringung bestehen. Dabei verhalten sich die meisten Menschen, die unter einer psychischen Störung leiden, im sozialen Alltag eher unauffällig und gewalttätig sind die allerwenigsten.
Die Forschung zur Stigmatisierung psychischer Störungen zeichnet ein komplexes Bild. Es scheint eine partielle Entstigmatisierung mancher Probleme zu geben, z.B. der Depressionen, aber auch eine Zunahme stigmatisierender Haltungen gegenüber anderen Störungsbildern, z.B. den Schizophrenien.
Seit vielen Jahren bemühen sich zahlreiche Institutionen um das Thema. 15 mal schon hat beispielsweise die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zusammen mit dem Aktionsbündnis Seelische Gesundheit und der Stiftung für Seelische Gesundheit den „DGPPN-Antistigma-Preis – Förderpreis zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen“ verliehen. 2017 ging der erste Preis an den Informations-und Beratungsdienst SeeleFon des Bundesverbands der Angehörigen psychisch Kranker e. V. (BApK). Selbsthilfe- und Angehörigengruppen leisten bei der Entstigmatisierung psychischer Störungen einen erheblichen Beitrag. Aber auch staatliche Stellen sind hier aktiv. Beispielsweise hat das bayerische Gesundheitsministerium 2015 seine Jahreskampagne der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gewidmet, 2016 der psychischen Gesundheit von Erwachsenen, und in beiden Kampagnen ging es ganz zentral auch um das Thema Entstigmatisierung. Weniger ruhmreich war dann der erste Entwurf des bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes, da war zunächst das stigmatisierende Denken an vielen Stellen unübersehbar. Jetzt ist es deutlich entschärft in Kraft getreten.
Meinen Blogbeitrag vorgestern über die aktuelle Konjunktur homöopathischer Lobbyaktivitäten hatte ich mit der Überschrift „ADHS-Epidemie bei der Homöopathielobby?“ betitelt. Einige Leser/innen sahen darin einen stigmatisierenden Umgang mit dem Thema, da der Titel eindeutig mit einer Diagnose – ADHS – gegen die Homöopathielobby polemisiert. Ich persönlich sehe das zwar als metaphorischen Sprachgebrauch, nicht ganz medical correct, doch ohne stigmatisierenden Unterton, aber natürlich kann man das auch anders wahrnehmen. Daher will ich das Thema des sensiblen Sprechens über psychische Störungen bzw. die Verwendung von Begriffen aus diesem Diagnosespektrum im Alltagsleben einmal zur Diskussion stellen. Trägt jede solche Begriffsverwendung eine stigmatisierende Last? Oder kann umgekehrt gerade auch eine übersensible Rücksichtnahme ein Stigma transportieren, weil man psychische Störungen damit doch wieder zu einem ganz besonderen Thema macht? Wie kontextabhängig ist ein stigmatisierender Sprachgebrauch und wie viel Stigma setzt sich eventuell kontextunabhängig durch? Wie sehen Sie beispielsweise Formulierungen wie „das ist doch paranoid“ oder „das ist doch schizophren“? Wie gehen Sie mit Betroffenen in Ihrem Bekannten- oder Familienkreis um? Wie soll man in Blogs mit Kommentatoren umgehen, die erkennbar unter einer psychischen Störung leiden, diese vielleicht sogar explizit ansprechen, und mit ihren Anliegen die Diskussion „stören“? Darf man sie moderieren oder trägt man damit zu ihrer Stigmatisierung bei? Ein Problem, das auch viele von Tagungen zu diesem Thema kennen, wenn sich Betroffene auf unkonventionelle Art und Weise einbringen. Nachdenkliche – und sensible – Kommentare sind gefragt!
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