Fragen
Die Grundfragen der Philosophie – was kann ich wissen, was soll ich tun und was darf ich hoffen – münden, so Kant, in die Frage, was ist der Mensch. Angesichts von gut 350 Milliarden Euro Ausgaben jährlich im Gesundheitswesen ist Kant fast zwangsläufig auch medizinisch durchzubuchstabieren: Was können wir über Gesundheit wissen, was sollen wir dafür tun und was dürfen wir – als Patienten oder als Gesellschaft – vom Gesundheitssystem erhoffen. Das mündet in die Frage, was ist die Medizin.
Mensch und Medizin, genauer, das Menschenbild in der Medizin, war von Freitag bis heute Thema einer dreitätigen Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing. Tagungen in Tutzing haben oft Themen, die nicht abzuschließen sind, sondern immer wieder neu bedacht werden müssen. Dazu passt die Sitzordnung dort: im Halbrund angeordnet, können sich die Gespräche und Gedanken im Kreis drehen.
Dass der kranke Mensch in der Medizin nicht auf seine Organe und Symptome reduziert werden soll, zumindest nicht prinzipiell, darüber dürfte weitgehend Konsens bestehen. Behandelt wird nicht die Herzklappe in Bett 5, sondern ein Mensch mit seiner Biografie, seinen Hoffnungen und Ängsten, seinen Angehörigen und natürlich seiner Krankenkasse. Aber wie weit soll die Medizin, soll der Arzt, über die Herzklappe hinausgehen? Oft heißt es, man müsse Menschen „ganzheitlich“ behandeln. Kann man das? Kann jemand den kranken Menschen „ganz“ verstehen und „ganzheitlich“ behandeln, wenn doch die Frage, was der Mensch ist, gar nicht beantwortet ist, und gar nicht mit positiven Bestimmungen zu beantworten ist, weil der Mensch, so Nietzsche, bekanntlich das nichtfestgestellte Tier ist? Ist das “ganzheitliche Behandeln” am Ende die pure Hybris, die Wiederkehr des Halbgotts in Weiß, der die Sorge des kranken Menschen in seiner ganzen existentiellen Tiefe zu verstehen glaubt, oder das vorgibt?
Sprachlosigkeiten
Bei der Tagung war ein Diskussionspunkt übrigens auch die Homöopathie, die von sich ja auch gerne sagt, sie würde keine Symptome behandeln, sondern den ganzen Menschen und deswegen würden sie so lange mit ihm sprechen und ihn alles Mögliche aus seinem Leben fragen. Leider hatten die Homöopathen in dem Fall keine Fragen. Sie wollten nur den Weilheimer HNO-Arzt Christian Lübbers provozieren, der als Referent eingeladen war. Frau Kruse und Herr Hümmer, beide fest verhaftet im homöopathischen Glauben, sind extra zu Lübbers‘ Vortrag angereist, haben ihre Sprüchlein abgesetzt und sind dann wieder gegangen. Nicht sehr wertschätzend gegenüber den Teilnehmern (und -innen) der Tagung. Schade. Das Menschenbild der Homöopathie hätte man ja einmal diskutieren können, ohne sich über die Wirksamkeit der Methode zu streiten. Und ob die homöopathische Anamnese den „ganzen Menschen“ erfasst oder ob sie eher Selektions- und Bindungseffekte auslöst, wäre auch ein sehr interessantes Thema gewesen.
Wer heilt?
Ist „Heilen“ das, was ärztliches Handeln im Kern ausmacht? Wer heilt eigentlich? Der Patient sich selbst, als sein „innerer Arzt“? Oder sein behandelnder Arzt mit den jeweils von außen angewandten Mitteln? Oder beide zusammen? Im Zweifelsfall sagt man am besten beide zusammen. Die Sichtweisen des inneren und des äußeren Arztes hat der Medizinhistoriker Heinz Schott in der Geschichte nachgezeichnet und entfaltet. Sein Plädoyer war natürlich, beide Sichtweisen im Menschenbild der Medizin zu verbinden. Wie gesagt, im Zweifelsfall macht man mit Antwort „sowohl als auch“ nicht viel falsch. Oder doch, wenn es um künftige Möglichkeiten durch den medizinischen Fortschritt geht? Wo bliebt der „innere Arzt“, wenn aus der Kombination von Genomanalysen und CRISPR-CAS-Techniken der Mensch zum „Schöpfer seiner selbst“ wird, wie ein in die Zukunft blickender Autor im Vortrag der Gießener Professorin Catharina Maulbecker-Armstrong zitiert wurde? Werden Medizinfutorologen künftig wichtiger als Medizinhistoriker? Oder brauchen wir Letztere umso mehr, um uns daran zu erinnern, dass Versprechen der Gottgleichheit des Menschen zumindest bisher immer in die Hölle geführt haben?
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