Die sprechende Medizin stand im Mittelpunkt des Vortrags des Medizinethikers Giovanni Maio. Er hat zunächst die moderne Medizin als „positivistisch“ beschrieben, fast meinte man, Horkheimer und dessen Kritik an der instrumentellen Vernunft zu vernehmen. Die moderne Medizin stelle das Messbare und Zweckrationale in den Mittelpunkt. Damit sei aber der Patient per se in der Position des zu behandelnden Objekts. Er werde dann nicht mehr als Mensch in seiner konkreten, komplexen und individuellen Lebenssituation wahrgenommen. Dass Messbare und Zweckrationale sei notwendig, aber nicht alles. Medizin dürfe sich nicht in „Checklisten-Rationalität“ erschöpfen, in der „Stereotypisierung des Vorgehens“. Zur Zahl gehöre auch das Verstehen des Gegenübers. Der Arzt (oder die Ärztin) müsse dem Patienten (oder seiner weiblichen Erscheinungsform) zuhören können und aufnehmen, was ihm der Patient entgegenbringt. Indem er den Patienten sprechen lässt, habe der die Möglichkeit, seine subjektive Perspektive, seinen Hintergrund und seine Situation als Geschichte zu erzählen und damit zugleich sinnhaft zu ordnen. Das Zuhören des Arztes gebe dem Patienten „Bedeutung“, das sei wirksamer als jedes Medikament. Die Krankheit sieht Maio als „Metamorphose“ des Menschen, aus der er verändert hervorgehe.
Heil und Heilen
Die Diskussion um dieses Konzept ließ das Spannungsfeld zwischen Heilen und Heil explizit werden. Zwar hat Maio mehrfach betont, ein anderer Mensch bleibe immer auch „Rätsel“ und löse sich nicht in etwas Bestimmbares auf, aber genauso oft hat er gefordert, es gehe darum, den ganzen Menschen zu verstehen. Das ist ein Widerspruch und, falls dieser in Richtung „den ganzen Menschen verstehen“ aufgelöst wird, eben jene oben erwähnte Hybris. Davon abgesehen: Ist es Aufgabe des Arztes, den Menschen heil zu machen? Oder reicht es nicht doch, die Krankheit zu heilen? Oder muss man da unterscheiden, je nachdem, ob es darum geht, eine Schnittwunde zu versorgen oder einem Krebskranken beizustehen? Ich persönlich möchte bei einer einfachen Schnittwunde jedenfalls nicht, dass der Arzt das in eine existentielle Frage verwandelt. Er soll mir dann bitte eine Tetanusspritze geben und die Wunde nähen. Ich will auch keine Metamorphose durchlaufen, sondern so wieder aus der Praxis kommen, wie ich hineingegangen bin.
Unter den Teilnehmern waren viele Ärzte und viele Klinikseelsorger. Wenn Menschen im Krankenhaus einen Gesprächspartner für Sinnfragen brauchen: Wer von beiden wäre der Richtige? Im Zweifelsfall, keine Frage auch hier, immer beide.
Interessant war auch eine Leerstelle der Menschenbild-Diskussion: Der Patient, die Patientin wurde stets als Individuum gesehen. Sein Wesen, nach Marx nicht ein dem Individuum innewohnendes Abstraktum, sondern das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, blieb gewissermaßen asozial.
Fragen im Kreis
Wie gesagt, in Tutzing sitzt man im Halbrund. Es spricht nichts dagegen, all diese Fragen demnächst noch einmal aufzugreifen. Dass wir uns darüber verständigen, was wir wissen können, tun sollen und hoffen dürfen, ergibt das sich in der Geschichte und in der menschlichen Praxis wandelnde Bild davon, was der Mensch ist.
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