Nebenan bei „Weitergen“ nimmt Tobias Maier gerade die Geschichte um die erfundenen Geschichten des SPIEGEL-Redakteurs Claas Relotius zum Anlass, um über die Rolle von Geschichten in der Wissenschaftskommunikation nachzudenken.
Neu sind Geschichten als Methode der Wissensvermittlung ja nicht, eher sind sie die Urform der Wissensvermittlung, siehe z.B. die “Gleichnisse” in der Bibel. Geschichten stellen Sachverhalte mit Akteuren und Handlungen dar. Das ist leicht auf den Lebensalltag übertragbar und bietet Identifikationsmöglichkeiten. Die Frage, “trifft das auf mich zu”, liegt nahe. Geschichten subjektivieren Sachverhalte. Konventionelle wissenschaftliche Texte objektivieren dagegen Sachverhalte. Sie abstrahieren von Handlungen und ihren Akteuren. Die Frage, “trifft das auf mich zu” liegt oft sehr fern.
Wir hatten darüber vor einiger Zeit auf Gesundheits-Check im Zusammenhang mit einem Workshop zum Thema „Evidenz zum Sprechen zu bringen“ diskutiert. Jeder kennt die fatale Wirkung von Geschichten über tatsächliche oder angebliche Impfschäden, möglicherweise hat der SWR das gerade mit der HPV-Impfung wieder vorgeführt. Dagegen kommt man mit statistisch gestützten Darstellungen zum Risiko-Nutzenverhältnis einer Impfung kaum an. Es gibt interessante Hybridformen, z.B. wenn Journalisten ihre Recherchen dadurch beleben, indem sie einen Wissenschaftler „im O-Ton“ einblenden, der aber nur Triviales erzählt. Ein Taxifahrer könnte dann die gleichen Sätze einsprechen, aber ohne die Autorität des Wissenschaftlers. Seine Rolle ist für den Wert der Geschichte konstitutiv.
In Gleichnissen wie in konventionellen wissenschaftlichen Texten geht es um die Verallgemeinerbarkeit von Erfahrung. Das kann auf verschiedenen Wegen geschehen. Aber auch ein biblisches Gleichnis ist nur ein Gleichnis, weil es beansprucht, Erfahrung zu verallgemeinern. Eine Geschichte, die das nicht leistet, ist einfach nur eine Geschichte. An ein Gleichnis, eine paradigmatische Geschichte, ist also ein doppelter Wahrheitsanspruch gestellt: Nicht nur dahingehend, ob sich die unmittelbar erzählte Story wirklich so zugetragen hat, sondern auch, ob dies eine verallgemeinerbare Erfahrung veranschaulicht – oder nur eine Geschichte unter vielen ist. Das Gleichnis lässt in der Verallgemeinerung den Faden zu den Menschen in konkreten Lebenssituationen, zu Akteuren und Handlungen, nicht abreißen. Der Preis der Geschichte ist, dass sie ihre Verallgemeinerbarkeit nicht in Form von Mittelwert und Standardabweichung sozusagen im Gesicht stehen hat. Sie kennt auch anders als ein guter wissenschaftlicher Beitrag keinen Methodenteil. Dementsprechend schwer ist es zu beurteilen, ob sie einen allgemeinen Sachverhalt veranschaulicht oder eben, wie gesagt, nur ein Gschichterl ist.
Claas Relotuis, was für eine Geschichte, aber was lehrt sie uns eigentlich? Was über Journalismus? Was über Wissenschaftskommunikation? Was über Verallgemeinerung in dieser oder jener Hinsicht?
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