Was lehrt uns der „Fall Relotius“? Dass man sich in Menschen täuschen kann, klar. Dass der SPIEGEL nicht genau genug hingesehen hat bei den Geschichten von Relotius, auch klar. Und dass Geschichten, wenn sie als Reportagen gelten sollten und nicht als literarische Parabeln, einem doppelten Wahrheitsanspruch genügen müssen: Die berichteten Ereignisse müssen stimmen und das dahinter stehende Bild der Welt sollte auch etwas Aufrichtiges haben. Aber Weltbilder sind nicht einfache Abbilder der Welt. Da wird es mit der Wahrheit schnell schwierig. Für manche steht der SPIEGEL, steht die Mainstreampresse insgesamt für eine große Lüge, Lügenpresse eben.
Die, die Welt so sehen, haben im Fall Relotius sehr schnell ihre Chance erkannt: Jetzt kann es doch jeder sehen, den Mainstreammedien ist die Wahrheit ziemlich egal, da geht alles durch, Hauptsache, die Story passt ins Bild, also ins linksgrünversiffte Weltbild. Endlich ein Trumpf in der Hand gegen den linken Moralismus! Der SPIEGEL lügt, in dem Fall natürlich pars pro toto, eine Eiterbeule des Gesinnungsjournalismus – und aus der eigenen Gesinnung heraus eben Lügenpresse.
Aber was, wenn die Sache auch hier nicht so einfach ist? Erinnern Sie sich noch an den merkwürdigen Herrn Köppel aus der Schweiz, Herausgeber der Weltwoche, der lange Dauergast in deutschen Talkshows war, bis ihn offensichtlich keiner mehr sehen konnte? Die Weltwoche ist ein Blatt, dem bestimmt nicht einmal die AfD eine linksgrünversiffte Gesinnung attestieren würde.
Ausgerechnet Köppels Weltwoche ist bisher gänzlich frei von jeder Häme gegenüber dem SPIEGEL. Ob das damit zu tun hat, dass sie auch jede Menge Texte von Relotius abgedruckt hat, wie man liest? Rhetorische Frage, klar. Köppel hätte sich sonst die Gelegenheit nicht entgehen lassen, über den SPIEGEL und den Rest der Lügenpresse herzuziehen. Seine weihnachtliche Milde schließt sogar den Betrüger Relotius ein. Köppel schreibt auf Twitter:
„Liebe Scharfrichter und Wahrheitshelden des Journalismus, nicht vergessen: Claas Relotius ist auch nur ein Mensch.“
So ist es, und auch Roger Köppel möchte gerne ein Mensch sein, das muss man dazu lesen.
Dass man beim SPIEGEL nicht genug aufgepasst hat, was es mit den Geschichten von Relotius auf sich hat, ist unübersehbar. Mit der Aufarbeitung dieses Skandals wird der SPIEGEL noch lange zu tun haben. Aber dass man deswegen nicht genug aufgepasst habe, weil die Geschichten weltanschaulich den richtigen Stallgeruch hatten, sollte man doch noch einmal hinterfragen. Denn für die Weltwoche müsste man sich dann eine andere Erklärung überlegen.
Wie die Weltwoche sich ihr Versagen selbst erklärt, bleibt abzuwarten. Die Aufarbeitung bei der Weltwoche ist bisher recht überschaubar, auf ihrer Internetseite steht auch heute nur lapidar*:
“In eigener Sache
Fall Relotius und Weltwoche
Ein früherer freier Mitarbeiter der Weltwoche musste Fälschungen zugeben. Wir nehmen den Fall ernst und überprüfen seine Texte.”
Man darf vielleicht vorerst wie Roger Köppel ebenfalls weihnachtliche Milde walten lassen: Liebe Scharfrichter und Wahrheitshelden des Journalismus, nicht vergessen: Die Weltwoche ist auch nur ein Blatt.
In diesem Sinne: Frohe Weihnachten! Die Weihnachtsgeschichte ist bekanntlich weitgehend erfunden, aber die Botschaft dahinter, „Friede auf Erden allen Menschen“, sollte mehr als die utopische Phantasie einer gut erzählten Geschichte sein. Ihre Wahrheit liegt in unserer Hand.
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* Nachtrag 26.12.2018: Hinter der Paywall ist vielleicht mehr.
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