Vor ein paar Tagen hat Thilo nebenan auf Mathlog eine mathematische Arbeit über “Opinion Polarization“ vorgestellt, die zeigt, wie sich die Herausbildung von Meinungsblasen modellieren lässt. Die Grundidee ist einfach: Es gebe zu einer Frage zwei Ansichten, die von einer Person mit bestimmter Überzeugung vertreten werden. Treffen nun verschiedene Personen aufeinander, werden ihre Überzeugungen über einen Parameter, die Autoren sprechen von einer „Lernrate“, modifiziert. Mit der Zeit zerfällt die Durchmischung der Gruppe und es bilden sich Meinungscluster heraus:
Die mathematische Seite der Arbeit übersteigt meinen Horizont, darüber kann ich also nicht diskutieren. Aber das Modell hat zwei inhaltliche Punkte, die ich interessant finde. Das ist einmal die Annahme, dass die Blasenbildung durch den Abgleich von Überzeugungen vorangetrieben wird und dann die mit diesem Modell hervorgebrachte Tendenz zur Auflösung der gesamten Population in Meinungscluster.
Ich glaube, Vorsicht, jetzt kommt eine Privattheorie, Blasen sind ein Ausdruck der Sehnsucht nach sozialer Geborgenheit. In unserer Gesellschaft haben sich traditionale Bindungen vielfach aufgelöst. Soziologen sprechen von „Individualisierung“. Das hat viele Ursachen, angefangen von der Aufklärung mit ihrer Kritik an überkommenen Glaubenswelten bis hin zur Globalisierung. Diese Entwicklung hat viele Vorteile. Wir müssen nicht mehr Bäcker werden, weil wir aus einer Bäckerfamilie kommen, wir müssen nicht mehr katholisch bleiben, weil wir so getauft wurden, Frauen können studieren, genau wie Arbeiterkinder, wir können nach New York ziehen und dort leben oder Bücher lesen, die früher auf dem Index standen. Aber es geht damit auch die Einbindung in soziale Gemeinschaften verloren, die man kannte, deren Regeln klar waren, die einengten, aber auch behüteten. Schon vor 20 Jahren beschrieb Richard Sennett, dass der „flexible Mensch“, dem alle Türen offenstehen, auch in einer instabileren und potentiell verunsichernden Welt lebt, immer wieder mit Angst, Hilflosigkeit, Orientierungslosigkeit und innerer Leere zu kämpfen hat.
In dieser Situation bieten die Echokammern des Internets eine Art Rückkehr der verlorenen Gemeinschaft. Bestimmte, sozusagen milieutypische Meinungen und Ansichten sind die Erkennungsmerkmale der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft. Als eine Art Identifikatoren werden sie nicht so einfach aufgegeben und vor allem nicht wahrheitssuchend gegen andere Ansichten abgewogen. Die andere Meinung ist schließlich das Erkennungsmerkmal der anderen Gemeinschaft. Das gilt sicher nicht für alle Ansichten. Darüber, ob es morgen regnet oder nicht, kann man vermutlich auch mit einem Pegida-Anhänger recht vernünftig reden, anders als darüber, ob der Islam den Untergang des Abendlandes bedeutet oder die Pegida. Auch wenn wir alle vielleicht etwas rechthaberischer als früher sind, weil wir immer mehr entscheiden und unsere Entscheidungen vertreten müssen.
Daran schließen sich meine Überlegungen zum zweiten oben genannten Punkt an. Es ist davon auszugehen, dass das Bedürfnis nach sozialer Geborgenheit in einer meinungshomogenen Gruppe unterschiedlich ausgeprägt ist. Viele von uns kommen ganz gut als Kosmopoliten zurecht und stören sich z.B. nicht an den Gebräuchen niederbayerischer Braxenvereine oder den Essgewohnheiten japanischer Männer. Deswegen glaube ich nicht, dass der Determinismus der Blasenbildung, den das Modell von Banisch/Olbrich zeigt, die unaufhaltsame Zersetzung meinungsgemischter Milieus in homogene Meinungsblasen, die gesellschaftliche Wirklichkeit angemessen beschreibt.
Vielleicht beschreibt das Modell also eher die Pathologie einer monomanischen Meinungsökonomie? Und ist, so anspruchsvoll seine Mathematik auch sein mag, doch zu einfach für uns normale Menschen? Vielleicht sogar prinzipiell, weil Gott (was immer das sein mag) zwar ein Mathematiker ist, aber auch ein Witzbold, der uns Menschen etwas mehr mitgegeben hat, als sich restlos in Algorithmen unterbringen lässt?
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