Es gibt Formen politischer Wissenschaft, die eindeutig abzulehnen sind, z.B. die „Deutsche Physik“ oder die Vererbungslehre Lyssenkos. Gleiches gilt für die diversen Spielarten gekaufter Wissenschaft. Sie führen von der Sache her in die Irre und machen die heuristische Orientierungsleistung der Forderung Max Webers, Wissenschaft solle auf der Aussagenebene „wertfrei“ sein, unmittelbar plausibel. Aber wie so oft steckt der Teufel im Detail. Wissenschaft ist nicht nur ein System von Aussagen, sondern auch ein institutionelles System mit Traditionen und Verwertungszwängen, in dem Menschen mit biografischen und sozialen Bindungen arbeiten, sich um Erkenntnis bemühen, Fehler machen oder auch einmal mehr oder weniger bewusst unguten Wegen folgen. Die beiden Systeme lassen sich nicht absolut sauber trennen. Davon zeugen z.B. die Wissenschaftsschulen, die es in manchen Disziplinen gibt, auch die aus der historisch reflektierenden Wissenschaftstheorie bekannten Konzepte der „wissenschaftlichen Paradigmen“ (Thomas Kuhn) oder „Denkstile“ (Ludwik Fleck) spiegeln diese Einsicht wider.
Hinzu kommt, dass Wissenschaft manchmal per se normativ fundiert ist. Das gilt für die Betriebswirtschaftslehre, sofern sie dem Auswahlprinzip der Gewinnmaximierung folgt, ebenso wie für die Theologie, der deswegen oft der Wissenschaftsstatus an sich bestritten wird, oder für die handlungstheoretische Psychologie, wenn sie die Frage nach der Erweiterung menschlicher Handlungsfähigkeit als kategoriale Grundlage hat.
Die von Max Weber propagierte „Wertfreiheit“ der Wissenschaft ist somit letztlich zwar eine idealtypische Fiktion, aber sie macht dennoch auf die Gefahr einer potentiell erkenntnistrübenden Vermengung der beiden Systeme „Wissenschaft als Aussagenzusammenhang“ und „Wissenschaft als Handlungszusammenhang“ aufmerksam. Das gilt auch für normativ fundierte Wissenschaften.
Kritik an dem einen System hat anderen Prinzipien zu genügen als Kritik an dem anderen System. Dass jemand wissenschaftlich auf dem Holzweg ist, ist eine andere Ebene der Kritik als der Vorwurf, dass sich jemand als Mietmaul für die Industrie betätigt. Ersteres ist mit den Methoden der Wissenschaft selbst zu klären, es geht um Wahrheit, Letzteres z.B. durch Whistleblower oder investigativen Journalismus und Verfahren über wissenschaftliches Fehlverhalten, es geht um Integrität.
Das schwierige Verhältnis der beiden Systeme ermöglicht es, wissenschaftliche Aussagen anzugreifen, indem man unterstellt, sie seien gar nicht wissenschaftlicher, sondern politischer (oder anderweitig außerwissenschaftlicher) Natur. Das eröffnet Arenen der Auseinandersetzung außerhalb der Wissenschaft, z.B. auf juristischer Ebene. Das ist nicht neu, beispielsweise hat die Tabakindustrie den Historiker Robert Proctor immer wieder mit juristischen Verfahren überzogen, um dessen Forschung zur Verschleierung der gesundheitlichen Folgen des Tabakkonsums zu behindern.
Ein aktueller Fall geht gerade durch die Medien. Die AfD hat gegen eine politikwissenschaftliche Analyse des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung geklagt. Ihr gefiel eine Aussage im Ergebnisbericht über die parlamentarische Strategie der AfD nicht und sie wollte die Veröffentlichung der Studie unterbinden. Dieses Anliegen hat das Landgericht Berlin nun zurückgewiesen. Der Versuch, gegen wissenschaftliche Aussagen politisch oder juristisch vorzugehen, zielt auf die Vermengung der beiden Systeme quasi von hinten, auf eine Politisierung von Wissenschaft durch die Politik. Die AfD hat das nicht erfunden, auch wenn sie vielleicht mehr noch als andere Parteien ein gestörtes Verhältnis zur Wissenschaft hat, siehe z.B. ihre Positionen zum Klimawandel oder zu den Infektionsgefahren durch Flüchtlinge.
Wenn wissenschaftliche Aussagen falsch sind, sind sie wissenschaftlich zu widerlegen. Justiziabel sind falsche wissenschaftliche Aussagen nur unter bestimmten Bedingungen. Hätte sich die AfD durchgesetzt, hätten es politikwissenschaftliche Studien womöglich in Zukunft schwerer gehabt, denn irgendwer wird immer etwas daran zu bemängeln haben, es gibt mehr Interessen als Wahrheiten.
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