Vermutlich nicht. Und auch Wikipedia macht in den Fall nicht viel klüger. Gerade einmal vier Zeilen hat Wikipedia zu Gustav Tugendreich zu berichten – und gibt mit New York zudem einen falschen Sterbeort an.
Gustav Tugendreich war Kinderarzt und Sozialhygieniker in der Vorkriegszeit, geboren am 21.10.1876 in Berlin, gestorben am 21.1.1948 in Los Angeles. Dort ist er auch begraben, in Sichtweite des berühmten Hollywood-Schriftzugs. Gustav Tugendreich hat auch ein filmreifes Leben gehabt. Er ist einer der ganz Großen in der Sozialmedizin. Zusammen mit Max Mosse (über den Wikipedia übrigens noch weniger weiß) hat er 1913 den Sammelband „Krankheit und soziale Lage“ herausgegeben, ein umfassendes Kompendium zum damaligen Wissen rund um die sozialen Einflüsse auf die Gesundheit. Diese Breite des Blicks auf den Zusammenhang von Krankheit und sozialer Lage wurde in Deutschland erst 80 Jahre später wieder erreicht – lange Zeit war das Thema in Forschung und Lehre praktisch nicht existent, die Vertreibung der Sozialmedizin durch die Nazis hatte nachhaltige Wirkungen.
Auch Gustav Tugendreich musste wie viele jüdische Ärzte emigrieren, 1937 ging er in die USA, nachdem er bereits vorher Schritt um Schritt aus allen Ämtern gedrängt wurde. Einer seiner Schwerpunkte war die Untersuchung der Säuglingssterblichkeit. Die Säuglingssterblichkeit war damals noch mehr als heute durch die soziale Lage der Familien beeinflusst. Tugendreich hatte sich den damals aufkommenden eugenischen Thesen zur Säuglingssterblichkeit entgegengestellt. Er sah darin, wissenschaftlich völlig korrekt, darin nicht das Wirken sozialdarwinistischer Naturkräfte, sondern einen von Menschen gemachten und von Menschen abstellbaren „bethlehemitischen Kindermord in Permanenz“: „Die Lehre Darwins aber braucht und soll uns nicht hindern, für die Schwachen, Strauchelnden, dem Lebenskampf sich schlecht Anpassenden unermüdlich und hingebend zu sorgen“ (zitiert nach Kuntz 2019: 23). Das hat er in seiner praktischen Arbeit nach Kräften getan, u.a. als Leiter einer Säuglingsfürsorgestelle im Berliner Stadtteil Wedding, einem Arbeiterviertel.
Benjamin Kuntz, Mitarbeiter im Fachgebiet „Soziale Determinanten“ des Robert Koch-Instituts, hat nun in der Reihe Jüdische Miniaturen eine kurze, gut lesbare Biografie über Gustav Tugendreich veröffentlicht.
Er hat dazu bisher unbekanntes Material recherchiert, bis hin zu einer Verbindung Tugendreichs zu Albert Einstein, sich in geradezu detektivischer Weise auf die Spurensuche begeben und z.B. auch den Sohn Gustav Tugendreichs, Tom Tugend, zweimal in den USA besucht. Das Büchlein ist ein Stück lebendig gemachter Zeitgeschichte. Es kostet 9,90 Euro und ist im Verlag Hentrich&Hentrich erschienen, von vorn bis hinten 106 Seiten, ohne Anmerkungen und Literaturverzeichnis 70 Seiten, also ein Nachmittag im Garten. Für alle, die sich für sozialmedizinische und sozialepidemiologische Themen interessieren, ein Muss: Kaufen! Und Lesen!
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