„Die Vermessung der Psychiatrie“ lautet der Titel eines gerade vieldiskutierten Buches des Berliner Psychiaters Stefan Weinmann. Stefan Weinmann greift die aktuell wieder virulenter gewordene Diskussion um den Reformbedarf in der Psychiatrie auf. Nach der Psychiatrie-Enquete 1975 und ihrer berechtigten harschen Kritik an der damaligen Anstaltspsychiatrie mit ihren ausgrenzenden und oft inhumanen Versorgungsstrukturen wurden viele Erwartungen in sozial- und gemeindepsychiatrische Konzepte gesetzt. Dabei wurden auch tatsächlich bedeutsame Erfolge erzielt, etwa was den Ausbau der ambulanten Versorgung angeht, den Aufbau von teilstationären Einrichtungen und Beratungsstellen, unterstützende Hilfen für chronisch psychisch Erkrankte beim Wohnen und Arbeiten oder auch einen humaneren Umgang mit den Kranken in den Kliniken. Teilweise konnte auch die Stigmatisierung psychischer Störungen zurückgedrängt werden. Dennoch kam es in den letzten Jahrzehnten zu einer unübersehbaren Dominanz der biologischen Psychiatrie und ihres Grundverständnisses, dass psychische Störungen Gehirnkrankheiten sind und dass man in dieses Krankheitsgeschehen vor allem chemisch, also medikamentös, eingreifen müsse. Auch hier gab es Erfolge, es wurden viele Medikamente entwickelt, die zumindest für manche Patienten durchaus sehr hilfreich sind.
Aber letztlich blieb unklar, was psychische Störungen sind, was konkret im Gehirn außer Takt gerät, wenn ein Mensch eine psychische Störung entwickelt und welche Rolle Medikamente in diesem Zusammenhang wirklich spielen. Peter Gøtzsche, der streitbare dänische Epidemiologe, hat die medikamentöse Psychiatrie, vermutlich etwas über das Ziel hinausschießend, in seinem Buch „Tödliche Psychopharmaka und organisiertes Leugnen“ insgesamt zu einem Irrweg erklärt. Aber auch im Fach selbst ist es, wie gesagt, zuletzt wieder vermehrt zu kritischen Wortmeldungen und Appellen für einen neuen Aufbruch in der Psychiatrie gekommen. Der Psychiatrie fehlt es derzeit an wegweisenden Perspektiven und am Anschluss an die gesundheitswissenschaftliche Diskussion insgesamt. Auch der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen hat in seinem Gutachten 2018 angemahnt, das gewachsene psychiatrische Versorgungssystem im Hinblick auf seine Leitorientierungen und Koordinationsmängel zu überdenken. Der Streit um den Stellenwert der Psychotherapie im Versorgungssystem ist nur eines von vielen Symptomen einer systematischen Orientierungslosigkeit.
In diese Debatte hinein hat Stefan Weinmann sein Buch geschrieben. Er greift all diese Punkte auf und stellt insbesondere das Selbstverständnis der biologischen Psychiatrie mit seinen Auswirkungen auf das Arzt-Patientenverhältnis und seiner weitgehenden Abstinenz gegenüber sozialen bzw. gesellschaftlichen Einflussfaktoren auf psychische Störungen infrage. Gestern gab es dazu in München in der Evangelischen Stadtakademie eine Diskussionsveranstaltung. Stefan Weinmann hat zentrale Positionen seines Buches vorgestellt, Peter Brieger, Chefarzt des psychiatrischen Isar-Amper-Klinikums in Haar, hat darauf geantwortet. Er sieht vieles an der „Diagnose“ ähnlich wie Stefan Weinmann und teilt auch dessen Ansicht, dass ein neues Überdenken des psychiatrischen Selbstverständnisses überfällig sei, bei der „Therapie“ des Systems sieht er jedoch gute Lösungen als Desiderat, als noch vor uns liegende Aufgabe.
Wie bei öffentlichen Diskussionen zur Psychiatrie nicht selten, waren auch einige Psychiatriebetroffene anwesend, darunter ein Mann mit „störendem“ Verhalten, der sich unter aller Augen umzog und immer wieder versucht hat, eigene Texte zu verlesen. Das vom Referenten angemahnte Verhältnis zwischen Psychiatern und Patienten „auf Augenhöhe“ wurde hier sozusagen live einem Lackmus-Test unterzogen. „Auffällig“ zu sein, kann eben ein Merkmal von Menschen mit ernsten psychischen Störungen sein. Aber das muss die Gesellschaft, wenn sie mit psychisch kranken Menschen integrativ umgehen will, eben aushalten. Auf Augenhöhe heißt dabei, auch die eigenen Interessen und Bedürfnisse nicht aufzugeben, in diesem Fall: Die Diskussion so gut es geht trotzdem fortzusetzen. Es ging erstaunlich gut.
Wie das Buch von Stefan Weinmann in die Psychiatrie hineinwirkt, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall ist es eine weitere Wegmarke in einer Reformdebatte, die geführt werden muss. Dass es auch für Laien lesbar ist, ist dabei kein Hindernis, das Thema geht uns schließlich alle an, wenn wir die Psychiatrie aus der gesellschaftlichen Abschottung herausholen wollen. Erschienen ist das Buch im kleinen „Psychiatrie-Verlag“, der insbesondere ein sozialpsychiatrisches Programm verlegt. Es kostet 25 Euro, also erschwinglich, selbst für Menschen mit Sparzwang.
Kommentare (13)