Normal, unnormal
Die Frage, was psychische Störungen sind, ist hier auf Gesundheits-Check immer wieder einmal Thema. Es gibt ein Alltagsverständnis dergestalt, dass ein Mensch unter einer psychischen Störung leiden könnte, wenn er in bestimmter Weise „unnormal“ ist und „abweichendes Verhalten“ zeigt.
Ein fester Orientierungspunkt ist das Normale allerdings nicht. Beispielsweise kann das gleiche Verhalten bei einem Künstler als „normal“ und bei einem Buchhalter als „unnormal“ gelten. Und auch rein statistisch bewegt man sich mit dem Maßstab des „Normalen“ auf schwankenden Boden, denn ein Viertel bis ein Drittel der Erwachsenen leiden Studien zufolge unter einer klinisch relevanten psychischen Störung. Ist es demnach nicht fast schon normal, nicht ganz normal zu sein?
Das Normale hat auch sonst keinen guten Ruf. Das Konventionelle, das was alle tun: ist das nicht auch das Mittelmäßige des Durchschnittsmenschen, während das Abweichende vielleicht das revolutionär Neue ist, oder das, was gesellschaftliche Fesseln sprengt und daher nur allzu schnell als Gefahr ausgegrenzt wird?
„Heute, wenn einer einen freien Gedanken ausspricht, bleiben ihm nur drei Wege: Irrenhaus, Gefängnis oder die Flucht. Bekennt er sich offen zur Geisteskrankheit, so drückt der Bezirksarzt ein Auge zu und – er verschwindet. Bleibt er auf seinem Verstande stehen, dann nimmt das Gericht seinen Lauf – und er verschwindet.“
(Oskar Panizza, Dialoge im Geiste Hutten’s, 1897, zitiert nach Michael Bauer: Oskar Panizza. München 2019)
Das ist eine Seite. Die andere: Das Normale markiert natürlich auch das, worauf man sich im sozialen Miteinander verlassen kann, was wechselseitige Verhaltenserwartungen stabilisiert, Vertrauen in die Verlässlichkeit der Anderen schafft. Wem alles zuzutrauen ist, dem ist nicht zu vertrauen, bei wem mit allem zu rechnen ist, der ist nicht zurechnungsfähig.
Einfach ist die Psychiatrisierung des Verhaltens als zu große Abweichung von der Normalität also nicht, aber die meisten Menschen haben eine gute Intuition dafür, ob jemand nur irgendwie anders ist, vielleicht exzentrisch, oder ob er psychisch krank ist. Die meisten Menschen sind sich auch darüber im Klaren, dass man insbesondere politische Ansichten nicht vorschnell psychiatrisieren darf. Das sollte man übrigens selbst dann nicht, wenn politische Ansichten eindeutig unnormal und unmenschlich sind. Hitler und Stalin waren Verbrecher, aber waren sie psychisch krank? Eher nicht. Sie hätten ins Gefängnis gehört, nicht in die Klinik. Bei Trump, obwohl sein kriminelles Potential deutlich geringer sein dürfte, kann man da schon eher ins Grübeln kommen, wenn er seine Liebe zu Kim bekundet oder sich als „unvergleichlich weise“ bezeichnet. Wobei Trump gewiss nicht durch die Nähe von Genie und Wahnsinn zur Ausnahmeerscheinung wird, dazu ist seine Exzentrik zu vulgär, zu verächtlich, zu spießig – zu normal eben.
Psychiatrisierung als Ausschluss aus der Argumentationsgemeinschaft
Nicht nur in der Sowjetunion wurde die Psychiatrisierung politisch unliebsamer Ansichten immer wieder praktiziert. Auch im demokratischen Deutschland ist das schon vorgekommen, man erinnere sich nur an die – später wieder zurückgenommene – Psychiatrisierung der Frankfurter Steuerfahnder um Frank Wehrheim.
Mit der neuen ICD-Version 11, die demnächst zur Anwendung kommt, kann übrigens die bislang nur bei Kindern verwendete Diagnose „oppositionelles Verhalten“ auch bei Erwachsenen vergeben werden. Vielleicht auch bei Demonstranten?
Von dieser kleinen ICD-11-Polemik abgesehen: Es wird kompliziert, wenn Krankheit und politisch störendes Verhalten zusammen vorkommen. Greta Thunberg hat ein Asperger-Syndrom, ICD-10 F84.5, also eine Diagnose aus dem Bereich der psychischen Störungen. Ist deshalb auch ihr politisches Engagement „krank“? Von manchen Leuten ist das in den sozialen Medien so vorgebracht worden, um Thunbergs Argumente in der Sache zu entkräften. Aber auch wenn ihr Engagement durch ihr Asperger-Syndrom beeinflusst wird, werden dadurch ihre Argumente in der Sache falsch? Unter Psychologen gibt es einen alten Spruch: „Glaub nicht, dass sie nicht hinter dir her sind, nur weil du paranoid bist“. Auch Menschen mit einer neurologischen oder einer psychiatrischen Diagnose können Recht haben, und das nicht nur, wenn sie Auskunft über die Uhrzeit geben.
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