Als „Stockholm-Syndrom“ bezeichnet man das Phänomen, dass jemand paradoxerweise gegenüber seinem Peiniger positive Gefühle entwickeln kann. Der Begriff geht auf eine Geiselnahme in einer Bank in Stockholm 1971 zurück.
Gestern war ich auf einer Tagung der IPPNW zur Digitalisierung im Gesundheitswesen. Leute wie Gerd Antes, der vor kurzem pensionierte Kopf von Cochrane Deutschland, oder Martin Tschirsich vom CCC, der seit langem Sicherheitslücken bei elektronischen Patientenakten publik macht, haben dort, neben vielen anderen Referent/innen, richtig gute Vorträge gehalten. Mancher mit Vorbehalten gegenüber der IPPNW wird vielleicht sagen, die IPPNW ist auch nicht mehr das, was sie mal war: ein Gutmenschenverein mit einem gehörigen Schuss Weltfremdheit. Ich kann beruhigen, die Weltfremden sind auch noch da, die Tagung war trotzdem lohnend.
Unter der Überschrift „Digitalisierung“ läuft derzeit eine politische Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse, die vermutlich niemand richtig überblickt, von der Arbeitswelt bis hin zum Gesundheitswesen. Die „Digitalisierung“ im Gesundheitswesen, absichtlich in Gänsefüßchen, weil es mehr ein Buzzword als ein gut definiertes Projekt ist, beinhaltet natürlich wie jede große Entwicklung Chancen und Risiken gleichermaßen. Insofern stellt sich auch abgesehen davon, dass sich die Zukunft sowieso nicht aufhalten lässt, nicht die Frage, ob man dafür oder dagegen ist. Es geht vielmehr darum, was die „Digitalisierung“ für die Menschen bringt, ob man die Chancen befördern und die Risiken verringern kann und was das im jeweils konkreten Fall bedeutet, sei es beim Einsatz künstlicher Intelligenz in der Diagnostik, sei es bei Apps zur Therapieunterstützung, sei es bei Fitness-Apps, sei es bei der Telematik-Infrastruktur.
Trump könnte die damit verbundenen Herausforderungen und die einzig wahre Antwort darauf sicher im Twitter-Format beschreiben, die Antwort hat bei ihm ohnehin nur 5 Buchstaben. Ich kann das nicht, aber jeder kann googeln, zu manchen Themen, etwa der Telematik-Infrastruktur, findet sich auch hier im Blog einiges. Ich will stattdessen nur auf einen Vortrag unseres Gesundheitsministers Jens Spahn aufmerksam machen, auf den im Zusammenhang mit der IPPNW-Tagung hingewiesen wurde. Den Vortrag hat er schon im April bei der Messe DMEA gehalten, er ist in der Mediathek der DMEA noch abrufbar. Ebenso übrigens die Rede von Dorothee Bär, wer noch mehr Werbefernsehen mag. Bei einer Stelle in Spahns Rede drängen sich allerdings eher Assoziationen an Dystopien der schönen neuen Welt auf. Spahn fordert, im Video etwa bei Minute 10:09, dass man „Lust“ darauf haben müsse, was kommt. Egal was kommt. Hinschauen und Abwägen wären da nach Spahns Auffassung wohl nur hinderlich, „Lust“ muss man haben, weil man ja sowieso nichts machen kann. Genau diese Hilflosigkeit löst das Stockholm-Syndrom aus.
Ich glaube, „Lust“ auf Neues kommt eher dann auf, wenn man wirklich Chancen hat, die Dinge im eigenen Interesse mitzugestalten, statt sie von oben übergestülpt zu bekommen, wie es der eilige Spahn mit seinen Schnellschussgesetzen derzeit praktiziert. Nicht technokratische Sachzwänge, sondern demokratische Mitgestaltungsmöglichkeiten setzen „Lust“ und Kreativität frei. Die Politik Spahns macht all das eher zunichte. Spahn will die Bahn freimachen für die Nutzung neuer Techniken und für die Nutzung von Gesundheitsdaten – viele finden das gut und Spahns Vorgehen zupackend, aber Demokratie geht anders. Wer will, dass die Menschen „Lust“ an der digitalen Zukunft haben, muss ihnen insgesamt Zukunftschancen geben, beim Wohnen und beim Arbeiten, oder im Alter, muss sie befähigen, die Dinge zu verstehen, muss speziell im Gesundheitsbereich „digitale Gesundheitskompetenz“ aufbauen, Beteiligungsprozesse organisieren und auch akzeptieren, dass die Dinge manchmal nicht so schnell gehen, wie „Macher“ das im Wettbewerb um Anteile am globalen Gesundheitsdatenmarkt gerne hätten. Beim Pflegenotstand, der Krankenhausmisere oder beim Klimawandel hat Spahn doch auch mehr Geduld. Und zum Thema Tempolimit, gerade im Bundestag niedergestimmt, hat er sich wieder mal ganz weggeduckt. Trotz der Toten durch Raserei auf den Autobahnen. Viel „Lust“ an der Gestaltung der Zukunft zeigt der eilige Spahn da nicht, nicht mal Anzeichen eines Stockholm-Syndroms.
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