Eines der Argumente von Wolfgang Wodarg und seinem prominenten Kronzeugen John Ioannidis ist, dass jedes Jahr viele Menschen an Erkältungskrankheiten sterben, darunter auch an solchen, die durch Coronaviren verursacht werden. Die Letalität von Sars-Covid-2 sei außerhalb von Hotspots wie Hubei in China oder Bergamo in Italien nicht sehr hoch, vielleicht wie bei der saisonalen Influenza, vielleicht ein wenig höher. Ohne Tests wäre das alles gar nicht aufgefallen, also alles ganz normal. Diese „Normalitätsthese“ wurde inzwischen hinreichend kritisiert, ich will nur noch zwei Gedankensplitter ergänzen:
Auch die Spanische Grippe 1918 hatte im Schnitt „nur“ eine Letalität von 1 % – 3 %. Aber diese im Schnitt nicht besonders hohe Letalität hat dazu geführt, dass weltweit 40, 50, vielleicht auch hundert Millionen Toten zu verzeichnen waren. Auch damals war also Bergamo nicht überall. Aber auch damals gab es regional große Unterschiede der Sterblichkeit. Beispielsweise gab es in Alaska Orte, in denen die Spanische Grippe die Mehrzahl der Bewohner umgebracht hat, manche Siedlungen dort sind durch die Spanische Grippe praktisch ausgerottet worden. Aus Massengräbern in Alaska wurden Jahrzehnte später Gewebeproben zur Untersuchung des Virus gewonnen.
Vielleicht sind in Hubei so viele Menschen gestorben, weil die Luftverschmutzung dort die Lungen vorgeschädigt hat, vielleicht sterben in Norditalien so viele Menschen, weil dort viele alte Menschen mit ausgeprägtem sozialen Familienleben und regionale Cluster chinesischer Textilgastarbeiter zusammen eine besonders gefährliche Situation haben entstehen lassen. Mag sein. Auch für die regionalen Hotspots der Sterbefälle bei der Spanischen Grippe gibt es sicher besondere Gründe. Aber die Masse der Toten geht nicht von solchen besonderen Bedingungen aus, sie geht von der durchschnittlichen Letalität von Sars-Covid-2 in Kombination mit einem exorbitanten Ausbreitungspotential aus. In dem Punkt unterscheiden sich 1918 und 2020 nicht. Die Spanische Grippe 1918 war aber nicht „normal“.
Natürlich, auch das sei zugestanden, gibt es Schlimmeres als Sars-Covid-2, gar keine Frage. Die Menschheit wird am neuen Coronavirus nicht zugrunde gehen. Das droht eher durch den Klimawandel, ich habe darauf schon in meinem ersten Blogbeitrag zur Coronakrise hingewiesen. Und auch für die jetzt besonders gefährdeten Älteren gibt es Gesundheitsrisiken mit mehr Sterbefällen. Der Tabakkonsum beispielsweise kostet in Deutschland jährlich ca. 120.000 Menschen vorzeitig das Leben. Ganz überwiegend sind auch da ältere Menschen betroffen, der Lungenkrebs braucht seine Zeit, ebenso wie der Herzinfarkt. 120.000 Sterbefälle jährlich, wohlgemerkt: Die Durchseuchung der Bevölkerung mit Tabak führt zu keiner Immunisierung. Den „Golden Holocaust“ (Robert Proctor) haben wir jahrzehntelang als „normal“ hingenommen. Vielleicht auch, weil hier die “Bergamos” fehlen.
Insofern kann man über die politische Priorisierung von Risiken und darüber, was als „normal“ gilt, diskutieren und sollte das zu gegebener Zeit auch wieder tun. An den Bedrohungsszenarien durch Sars-Covid-2 und dem, was damit auf das Gesundheitswesen zukommen könnte, oder regional schon zugekommen ist, ändert sich dadurch aber nichts. Gar nichts.
Kommentare (54)