Nicht nur die Schulkinder lernen zurzeit online. Wir alle sind in einem Online-Lernprogramm, viele absolvieren quasi nebenbei einen Grundkurs in Infektionsepidemiologie. Was aktuelle Infos angeht, hören viele den Podcast von Christian Drosten, zur Fallzahlentwicklung schauen wir vielleicht beim Robert Koch-Institut und der WHO nach den offiziellen Meldedaten oder informieren uns bei den schnelleren „Datenstaubsaugern“ wie Our World in Data oder Worldometers und was Verhaltensregeln angeht, ist z.B. die Infoseite der BZgA hilfreich. Für kritische Fragen an die Datenlage wiederum ist das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin eine seriöse, verschwörungstheoriefreie Quelle.
Ein epidemiologischer Begriff, der zu Beginn der Krise eher in Fachkreisen beheimatet war, ist jetzt in aller Munde: die „Letalität“. Sie bezeichnet im Prinzip etwas ganz einfaches, nämlich das Verhältnis zwischen Erkrankten und den an der Erkrankung Gestorbenen. Im Prinzip ist das einfach, aber wie so oft steckt der Teufel im Detail. Auf ein paar Punkte sei hier noch einmal hingewiesen:
1. Was den Nenner angeht, findet man Bezüge auf Sars-Cov-2-Infizierte mit geschätzter Dunkelziffer, auf positiv Sars-Cov-2-Getestete, auf Covid-19-Erkrankte (mit positivem Test), auf Erkrankte mit typischem klinischen Bild, auf Erkrankte in der Allgemeinbevölkerung und auf schwerer Erkrankte in den Krankenhäusern. Im englischsprachigen Raum werden manchmal die Infection Fatality Rate und die Case Fatality Rate unterschieden – darin spiegelt sich diese Nennerproblematik wider.
2. Auch beim Zähler, den Sterbefällen, ist mit einer Dunkelziffer zu rechnen, vor allem in Ländern, in denen wenig getestet wird.
3. Wenn als „Fall“ gezählt wird, wer positiv getestet wurde, zieht das logischerweise nach sich, dass die Fallzahl von der Menge durchgeführter Tests abhängt. Das kann zwischen verschiedenen Ländern oder zwischen verschiedenen Zeitpunkten sehr unterschiedlich sein.
4. Die Zahl der Sterbefälle und der kritisch Erkrankten wird des Weiteren durch die Qualität der medizinischen Versorgung beeinflusst. Wenn z.B. Patienten nicht mehr angemessen versorgt werden, weil es an Beatmungsplätzen oder Pflegepersonal fehlt, sterben mehr Menschen.
5. Bei den Statistiken zu den „Sars-Cov-2-related Deaths“ kann mangels der dazu nötigen diagnostischen Informationen oft nicht unterschieden werden, ob jemand mit Sars-Cov-2 an einer Lungenentzündung gestorben ist oder aufgrund Sars-Cov-2. Die Epidemiologen sind sich dessen natürlich bewusst, nicht erst seit Herrn Wodarg.
6. Für den Vergleich zwischen Regionen hängen Zähler und Nenner erheblich davon ab, wie alt die jeweiligen Bevölkerungen sind. In einer älteren Bevölkerung ist mit mehr schwer Erkrankten und mehr Sterbefällen zu rechnen. Dieses Problem lässt sich ggf. durch eine Altersstandardisierung (oder etwas deskriptiver durch den Vergleich der Altersverteilung von Bevölkerung und Fällen) angehen.
7. Damit Zähler und Nenner medizinisch sinnvoll zusammenpassen, müssen Inkubationszeit und Erkrankungsdauer einkalkuliert werden. Die Sterbefälle von heute resultieren aus den Infektionen von vor 10 bis 14 Tagen, nicht aus den Infektionen von heute. Je nachdem, wo eine Region in der epidemiologischen Kurve steht, ob noch vor dem exponentiellen Anstieg, im exponentiellen Anstieg oder danach in der Abflachung der Kurve, ergeben sich sonst auch bei faktisch gleicher Letalität unterschiedliche regionale Raten.
Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer Faktoren, die Einfluss auf die Letalitätsrate einer Region oder Bevölkerungsgruppe nehmen können. Wo beispielsweise eine hohe Luftverschmutzung herrscht oder viele Menschen rauchen, gibt es mehr vorgeschädigte Lungen und vielleicht in der Folge mehr Erkrankungen mit unguten Verläufen. Christian Drosten sieht in den höheren Raucherraten der Männer eine mögliche Ursache für deren höheres Sterberisiko. Des Weiteren zeigen Studien, dass Vorerkrankungen wie Diabetes mellitus oder Herzkrankheiten das Risiko erhöhen, im Erkrankungsfall zu sterben. Wo solche Erkrankungen häufiger sind, könnte sich das also erhöhend auf die Letalitätsrate auswirken. Gleiches gilt mit Blick auf die soziale Lage: Je schlechter die soziale Lage, desto weniger gut sind im Allgemeinen die Überlebenschancen bei ernsten Erkrankungen. Das könnte auch bei Covid-19-Patient/innen der Fall sein.
Für Deutschland hat das Robert Koch-Institut vor kurzem eine Modellierung für die Infektionen und die Krankenhausfälle vorgelegt, bei der es es von einer Letalität der Infektion von 0,56 % ausgeht. Beim Vergleich mit den Letalitätsraten anderer Länder sollten Sie den einen oder anderen hier genannten Punkt im Hinterkopf zu behalten.
Zum Schluss noch ein Hinweis: Eine mit der Letalität verwandte und oft mit ihr verwechselte Maßzahl ist „Mortalität“. Dabei werden die Sterbefälle auf die gesamte Bevölkerung bezogen. Eine Infektion mit sehr hoher Letalität, wie Ebola, kann eine niedrige Mortalität haben, wenn sie sich nicht weit verbreitet. Umgekehrt kann eine mäßige Letalität, wie bei Sars-Cov-2, bei entsprechender Ausbreitung sehr viele Sterbefälle nach sich ziehen, also die Mortalität spürbar erhöhen. In Deutschland gehen – anders als in Norditalien – die Sars-Cov-2-Sterbefälle bisher noch im statistischen Rauschen der Mortalität unter. Das wird vermutlich trotz aller Anstrengungen nicht so bleiben.
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