Kurven aller Art beschäftigen derzeit viele von uns. Selbst Trump hat sich dazu schon verhalten: „Ich war nie involviert in eines der ‘Models’ – zumindest nicht in diese Art von Model”. Aber seine Sprüche nimmt eh keiner mehr ernst. Boris Palmer hätte sich das vielleicht nachträglich für seine Sprüche auch gewünscht – nachdem es ihn aus der Kurve getragen hat. Wodarg legt eine beeindruckende Flexibilität an den Tag, was die Auswahl von Kurven angeht. Und manche von uns würden gerne ihre Verantwortung für den Umgang mit der Krise an Kurven komplexerer Art delegieren, sozusagen an eine Art digitalen Führer: Kurve befiehl, wir folgen.
Gestern hatte ich auf Gesundheits-Check Kurven zur coronabedingten Exzessmortalität für Nordrhein-Westfalen und Bayern in den letzten Wochen gezeigt, ohne weitere Kommentierung. Da mich inzwischen dazu einige nachfragende E-Mails erreicht haben, hier noch ein paar Anmerkungen zur diskursiven Einordnung der Kurven:
• Die Kurven geben die reale Entwicklung der Sterbefälle wieder, es sind keine Modellierungen. Aber sie sind trotzdem nicht voraussetzungsfrei: Sie zeigen eine sehr einfach bestimmte Exzessmortalität, indem die Sterbefälle 2020 auf den Durchschnitt 2016-2019 bezogen werden. Dieser Durchschnitt ist zumindest bis Mitte März keine „normale“ Baseline, sondern erkennbar z.B. durch starke Influenzajahre nach oben verzerrt. Deswegen ergibt sich für diese Zeit scheinbar eine negative Exzessmortalität. Sie wäre korrekterweise mit Null anzugeben: Solange es keine Coronatoten gab, konnten sie auch keine Exzessmortalität verursachen. Für die Übergangszeit, in der sowohl Influenzatote und Coronatote auftreten konnten, wird die coronabedingte Exzessmortalität dadurch unterschätzt, mit dem Abflauen der Influenzafälle verschwindet dieser Effekt. Dafür ist bei den letzten zwei Wochen eine andere Unterschätzung anzunehmen: Die Sterbefälle sind noch nicht ganz vollständig von den Standesämtern an die amtliche Statistik übermittelt.
• Die Kurven geben einen Hinweis auf die Antwort zur leidigen Frage „gestorben mit oder durch Corona“. Man wird sie plausiblerweise als Anstieg der akuten Exzessmortalität durch das Virus interpretieren müssen. Wenn man die Exzessmortalität längerfristig betrachtet, über Monate oder Jahre, kommen dann einerseits Sterbefälle durch die Maßnahmen gegen das Virus und andere Folgen dazu, andererseits kommen Ausgleichsprozesse zum Tragen, weil die vorzeitig Gestorbenen nicht noch einmal „normal“ sterben können.
• Die Kurven sagen nicht, dass es nicht Schlimmeres gibt, wie z.B. das Rauchen. Dessen Mortalitätsfolgen verteilen sich vermutlich ziemlich gleichmäßig über das Jahr, sie stecken also in der Baseline. Die Exzessmortalität der Influenza kann man dagegen direkt sehen, wenn man die wöchentlichen Sterbefälle in den einzelnen Jahren verfolgt.
• Die Kurven sagen nichts darüber aus, ob der Aufwand der Seuchenbekämpfung gerechtfertigt ist und was moralisch geboten ist. Die Kurven mögen für naturalistische Fehlschlüsse in die eine oder andere Richtung missbraucht werden, es bleiben naturalistische Fehlschlüsse. Was sein soll, resultiert nicht algorithmisch aus dem, was ist.
• Sie sagen für sich genommen auch noch nichts darüber aus, wie groß der Effekt der Seuchenbekämpfungsmaßnahmen ist oder was der Beitrag eines spezifischen Sets an Maßnahmen ist. Das wird ohnehin interessant, wenn einmal die akute Exzessmortalität mit den Ergebnissen aus den frühen Modellen verglichen wird, wie sich die Zahl der Sterbefälle in Abhängigkeit von der Absenkung von R(t) hätte entwickeln sollen.
Das Statistische Bundesamt wird in ein paar Tagen die nächste Auswertung online stellen. Vielleicht sieht man dann schon wieder eine Abnahme der Zahlen, oder auch nicht. Je nachdem wird die Kurvendiskussion neue Nuancen bekommen. Die einen werden sagen, seht ihr, wir haben es doch gleich gesagt, alles ganz harmlos, man hätte sich die Aufregung sparen können, die anderen werden sagen, seht ihr, ein Glück, dass wir halbwegs schnell und entschieden reagiert haben. Ob die einen oder die anderen Recht haben, werden dann komplexere Kurven zeigen. Die Wissenschaft wird noch länger nachsitzen müssen.
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